Der Mann mit der Startnummer 91 hört auf den Namen Carbonpiet und trägt einen imposanten Bart, der sich von der Backe über die Oberlippe zur anderen Backe zieht. Doch das Urteil seiner Tochter fällt unbarmherzig aus: „Du siehst aus wie ein Perverser.“ Dabei hält sich Carbonpiet lediglich an die Regel, die klipp und klar besagt: Ohne Bart kein Start. Und die Wächter über die Regeln, die Macher der Klapprad-Weltmeisterschaft in Ludwigshafen, meinen es ernst. Wer keinen Bart trägt, kein mindestens 30 Jahre altes Klapprad ohne Gangschaltung fährt und nicht den Text der offiziellen World-Klapp-Hymne „Kennst du Ludwigshafen, die Perle in der Pfalz“ aus dem Effeff beherrscht, ist eines Starts nicht würdig.
Die Kontrollen erscheinen hart. Jeder Bart, jedes Fahrrad der 99 Fahrer, die das Rennen im altehrwürdigen Velo-, pardon, Klappodrom im Stadtteil Friesenheim in Angriff nehmen, werden von der Jury beäugt. Zudem ist der Schirmherr ein strenger Regent, weil ein echter König. Céphas Bansah regiert eigentlich die Bevölkerungsgruppe der Hohoe Gbi Traditional Ghana, betreibt aber seit Jahren in Ludwigshafen eine Kfz-Werkstatt und spricht breiten pfälzischen Dialekt.
Alle singen mit – bis auf der Sänger
Weil große Ereignisse große Repräsentanten brauchen, fährt König Bansah standesgemäß im Jeep ins Klappodrom ein, dreht ein paar Runden und lässt sich von seinen Klapprad-Vasallen huldigen, bevor er jene beim Gelöbnis dazu verpflichtet, „bart, aber fair“ zu fahren. Vor dem Start fordert Hans Freistadt, Ex-Boxer, Gastwirt und Sänger, die Klapprad-Fahrer heraus. Er greift zum Mikrofon und schmettert die Hymne aller Hymnen – Vollplayback. „Selbst das Gemüse fühlt sich wohl, wir haben auch den dicksten Kohl.“ So wie es die Regeln vorschreiben, singen alle mit. Zumindest singen sie irgendwie. Im Gegensatz zu Freistadt.
Der Mann, der auf den Namen B.Art hört, sieht nicht gut aus. Findet zumindest seine Frau Kirsten. Sechs Wochen lang hat er sich einen herrlichen Oberlippen-Kinnbart wachsen lassen, bevor sein Friseur Stefan ihm einen Tag vor dem Rennen „eine Pornofrisur“ ins Gesicht zauberte. „In dem Moment, als ich das Klappodrom betreten habe, fühlte ich mich plötzlich wohl damit“, sagt B.Art, der eine stilechte Schlaghose trägt und sein Rad Marke Kalkhoff bei Ebay für 38 Euro ersteigert hat. Sein Ziel: Die Vorrunde, bei der sich in drei Läufen die jeweils sieben Besten fürs Finale qualifizieren, zu überstehen.
„Mir tut der Arsch weh!“
„Mir tut der Arsch weh“, bilanziert er unverblümt nach dem Endlauf. Aber auch: „8. Platz bei einer Weltmeisterschaft – ich werd bekloppt!“ B.Arts Kompagnon Dr. Bartram dagegen übersteht die Vorrunde nicht, übertrumpft jedoch B.Art eindeutig in der Style-Wertung. Nicht unbedingt, was den Bart selbst betrifft, aber sein roter Adidas-Einteiler ragt heraus – genauso wie sein wirklich imposanter Fuchsschwanz. Andere hören auf Namen wie Barthaar Ilic, Klapprad Orange oder Dietrich Müller-Thurgau. Sie fahren Räder der Marken Turmberg, Mifa oder Rekord, die sie liebevoll aufgemotzt und dekoriert haben. Sie haben tief in der Klamottenkiste gekramt und glitzernde Jet-Helme, weiße Seidenanzüge, monströse Goldketten oder eng anliegende Oberteile in leuchtenden Farben darin gefunden. Und sie tragen Bärte, auf die sie stolz sind – im Gegensatz zu ihren Frauen.
Viele Zuschauerinnen haben sich extra für den World-Klapp zwar einen Bart angeklebt oder kunstvoll angemalt und erfreuen sich an der prächtigen Männlichkeit der Gesichtsfrisuren. Geht’s aber um den eigenen Mann, hört der Spaß auf. Bereits unmittelbar nach Zieleinlauf haben aufmerksame Beobachter die ersten Klapprad-Fahrer erwischt, die von rabiaten Frauen dazu gezwungen wurden, ihre Gesichter wieder glatt zu rasieren. Schnellstmöglich! Und das, obwohl alle noch wenige Stunden zuvor König Bansah voller Inbrunst versprachen: „Ich gelobe, dass mein Bart echt ist und morgen nicht abrasiert wird.“
Der Mann, der auf den Namen Hinnerpälzer hört, scheint unglaubliches Glück zu haben: „Meine Frau hat mich gezwungen, sie steht auf Oberlippenbärte“, behauptet er. Hinter dem Schnorres verbirgt sich das Gesicht des Pfälzer Rennrad-Idols Udo Bölts. Der Hinnerpälzer fährt – mit einer atemberaubend Trittfrequenz – ein Rad mit Originalübersetzung. Zu viel für das Klapprad, das unter diesem Wirbel im Finale zusammenbricht. Zu viel offensichtlich auch für den Bart, den der Hinnerpälzer schon vor der Siegerehrung einfach abgezogen hat. Beim Barte des Propheten!
Pornobalken als dreiste Fälschung
Obwohl die OlibaVo in § 8 regelt, dass mit Geldbuße belegt wird, „wer trotz frühzeitiger Anmeldung keinen echten Bart vorweisen kann und deshalb einen falschen Bart nutzen muss oder unter Verwendung von Tierhaar vortäuscht, Oberlippenbartträger zu sein“, entpuppt sich so mancher Pornobalken als dreiste Fälschung. Die fadenscheinigen Ausreden: „Mir wachst noch keener, weil ich erschd dreizehne bin“, behauptet der Jüngste im Starterfeld. Und die Frau, die auf den Namen Barte Simpson hört, sagt lapidar: „Mein Bart ist lang wie ein fader Witz, aber es ist der Bart von Miraculix.“
Der Mann, der auf den Namen König Bansah hört, verspricht, hart durchzugreifen. Schon bei sich selbst. „Das nächste Mal fahre ich mit, dann aber auch mit echtem Bart“, gelobt er. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, damit’s im nächsten Jahr auch klappt, dass wirklich alle echte Bärte tragen. Und damit’s auch klappt, dass wirklich alle die Hymne singen. Echt jetzt! Die Melodie ist einfach. Der Text nicht allzu schwer. Ein Klapprad ist schon irgendwie zu besorgen. Was es in Wahrheit kostet, muss ja niemand wissen. Und falls es bis dann noch Frauen geben sollte, die keine Bärte mögen, so müssen sie einfach das akzeptieren, was, gespielt von der Band Elfmorgen, unmissverständlich den lieben langen Tag durchs Klappodrom hallt: „Das Leben ist hart ohne Oberlippenbart.“
Die Reportage wurde im Magazin ROADBIKE, Ausgabe 9/2012, im Magazin MOUNTAINBIKE, Ausgabe 1/2013, und im Sonderheft ROADBIKE PASSION, Ausgabe 1/2014, veröffentlicht.