Ihr sportliches Leben war geprägt davon, möglichst schnell auf Ski bergab zu fahren. Jetzt scheinen Sie Gefallen an steilen Anstiegen mit dem Rennrad gefunden zu haben und wollen beim Ötztaler Radmarathon an den Start gehen. Ist das nicht ein ziemlich starker Kontrast?

Radfahren hat in meine Leben schon immer eine große Rolle gespielt. Mein Vater hat mich und meinem Bruder von klein auf regelmäßig mit auf Radtouren genommen. Und auch als Skirennfahrer bin ich im Sommer viel zum Grundlagen- und Intervalltraining auf dem Rennrad oder Ergometer gesessen. Fürs Skifahren war das aber eher Mittel zum Zweck – mittlerweile ist daraus eine große Leidenschaft erwachsen. Wenn ich vom Radtraining zurückkommen, sagt meine Frau immer zu mir, dass man es förmlich spürt, wie gut es mir tut.

Was genau macht diese Leidenschaft für Sie aus?

Ich genieße einfach die Freiheit. Meistens gehe ich allein zum Rennrad fahren – ohne Kopfhörer und ohne Ablenkung. Wenn ich die Natur erleben, die Vögel hören und die Bäume riechen kann, dann kann ich dabei meinen Gedanken nachhängen. Und die drehen sich in letzter Zeit natürlich auch um den Ötztaler. Wie wird das für mich? Komme ich gut durch? Und wie hart wird es am Ende übers Timmelsjoch zu kommen?

Ex Skiprofi Thomas Dreßen im Interview zur Vorbereitung auf den Ötztaler Radmarathon 20 Bilder
Galerie: Thomas Dreßen und seine Rennrad-Leidenschaft.

Wann hatten Sie denn die Idee, den Ötztaler – einen der härtesten Rennradmarathons überhaupt – zu fahren?

Eigentlich schon ziemlich lange. Wahrscheinlich wie jeder Rennradfahrer habe auch ich immer gedacht: Einmal im Leben den Ötztaler fahren – das wär’s. Nachdem ich dann aber meine aktive Karriere vergangenen Winter beenden musste, wurde die Idee immer konkreter.

Ex Skiprofi Thomas Dreßen im Interview zur Vorbereitung auf den Ötztaler Radmarathon
„Wenn ich die Natur erleben, die Vögel hören und die Bäume riechen kann, dann kann ich dabei meinen Gedanken nachhängen.“ Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Wenn Sie sagen, Sie mussten Ihre Karriere beenden, wurde Ihnen die Entscheidung also abgenommen?

In gewisser Weise schon. Eigentlich war mein Ziel, nochmal ganz vorne in der Weltspitze zu fahren. Aber die Saison war von Anfang an verkorkst. Nach den vielen Rennabsagen zu Beginn, hat mich eine Virusinfektion außer Gefecht gesetzt. Und im Training habe ich plötzlich einen Stich im Knie gespürt, durch den ich sofort gemerkt habe, dass das ein ernsteres Problem ist.

Trotzdem sind Sie danach noch Rennen gefahren.

Ja, aber meine Bewegungsfreiheit war extrem eingeschränkt und zudem habe ich meinen Fuß im Skistiefel nicht mehr gespürt. Zudem hat das MRT gezeigt, dass zwei von meinen vier operierten Knorpelschäden wieder aufgebrochen sind. Die Ärzte haben zwar gesagt, dass sie das wieder hinbekommen könnten, aber nur für eine begrenzte Zeit von vielleicht ein oder zwei Jahren – und vor allem mit dem Risiko, dass ich danach dauerhafte Einschränkungen haben würde, auch im ganz normalen Alltag.

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„Wahrscheinlich wie jeder Rennradfahrer habe auch ich immer gedacht: Einmal im Leben den Ötztaler fahren – das wär’s.“ Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Ein Risiko, das Ihnen zu groß war?

Definitiv! Mir war trotz aller Hingabe zum Skisport immer wichtig, dass ich meine Kinder aktiv erziehen, mit meiner Familie viel Sport treiben und möglichst viel an der frischen Luft sein kann.

Fiel es Ihnen nicht trotzdem schwer, die Karriere so zu beenden?

Ich hatte zum Glück einen sehr emotionalen Abschied mit meiner letzten Abfahrt in Kitzbühel, bei der ich jeden Moment nochmal aufsaugen konnte. Die Streif zu gewinnen, das war mein Traum schon als kleines Kind, und den habe ich mir 2018 erfüllt. Mit dem Schlussstrich im Januar hat sich ein Kapitel im Leben für mich geschlossen. Auch wenn es nicht ganz einfach war, hat es sich rückwirkend als richtige Entscheidung erwiesen. Das, was wir machen, ist knallharter Rennsport, der mit meiner Vorstellung von Skifahren nur bedingt etwas zu tun hat. Skifahren, das ist für mich, oben am Berg zu stehen und mit möglichst viel Spaß wieder runterzufahren. Und ich freue mich darauf, das im nächsten Winter wieder genießen zu können.

Und dann haben Sie nach Kitzbühel direkt mit der Vorbereitung auf den Ötztaler begonnen …

Das hätte ich gerne. Aber wie so viele andere Profisportler, die ihre Karriere beendet haben, bin ich erstmal in ein riesiges Loch gefallen.

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„Glücklicherweise habe ich gerade sehr viel Lust zum Rennradfahren.“ Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Wie hat sich das ausgewirkt?

Ich hatte ja das erste Mal in meinem Leben keine Aufgabe mehr, keine Struktur. Das Einzige, was ich wollte, war, Zeit mit meiner Frau und meiner Tochter zu verbringen. Aber so gegen Anfang März kam die Lust am Sport zurück. Ich habe gemerkt, dass ich zwar mit dem Leistungssport abgeschlossen habe, aber nicht mit dem Sport an sich. Und den Entschluss, den Ötztaler zu fahren, hatte ich ja eigentlich schon gefasst.

Hat Ihnen das Rennradfahren also dabei geholfen, wieder Struktur in Ihren Alltag zu bekommen?

Irgendwie schon. Wobei ich natürlich immer noch in einer Situation bin, in der ich viel Zeit habe. Aber ich genieße es, gerade tun zu können, wozu ich Lust habe. Und glücklicherweise habe ich gerade sehr viel Lust zum Rennradfahren.

Was dazu geführt hat, dass Sie auf Instagram Ihren ersten 200er im Leben gefeiert haben.

Ich wollte einfach mal ausprobieren, wie sich das anfühlt. Beim Ötztaler sind es ja noch ein paar Kilometer mehr. Aber in der Regel sind meine Runden so 70 bis 120 Kilometer lang und haben 1000 bis 2500 Höhenmeter.

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„Wie so viele andere Profisportler, die ihre Karriere beendet haben, bin ich erstmal in ein riesiges Loch gefallen.“ Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Trainieren Sie dabei nach Gefühl oder haben Sie einen detaillierten Trainingsplan?

Auf einen Trainingsplan habe ich nach all den Jahren als Leistungssportler keine Lust mehr. Aber natürlich, weiß ich, wie sich Ausdauertraining sinnvoll aufbaut: mit viel Grundlagentraining am Anfang der Saison und gezielten Belastungsspitzen.

Was bedeutet das konkret für Sie?

Dass ich nach all der Arbeit mit Konditionstrainern weiß, wie wichtig es vor allem ist, seine Bereiche zu kennen und in den Bereichen auch zu trainieren. Deswegen habe ich beim Rennradtraining auch immer mein Laktatmessgerät dabei. Und ich habe auch einen Powermeter an meinem Rennrad. Mein Ausdauertraining ist also – so wie früher auch – watt- und laktatgesteuert. Der Unterschied ist aber, dass ich nicht mehr Intervalle auf dem Ergometer fahre, um möglichst viel aus jedem Training herauszuholen, sondern mit dem Rennrad rausgehe und auf mein Körpergefühl höre. Wenn ich Lust habe, dann gebe ich Vollgas. Und wenn Ruhe brauche, dann lasse ich es etwas lockerer angehen. Wie meine Runde aussieht, wie lange ich fahre, wieviel Berge ich einbaue und wie schnell ich sie hochfahre – all das diktieren mir heute keine Trainingspläne mehr.

Hört sich bei aller Entspanntheit trotzdem noch nach einem gewissen Ehrgeiz an.

Wenn ich den Ötztaler fahren will, dann bedeutet das für mich auch, dass ich das gut machen will. Ob es am Ende neun, zehn oder elf Stunden sind – ich will das Gefühl haben, die für mich maximal mögliche Leistung gebracht zu haben. Und ich will auch kaputt sein, wenn ich im Ziel ankomme, aber trotzdem natürlich auch möglichst viel Spaß dabei haben.

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„Wenn ich Lust habe, dann gebe ich Vollgas. Und wenn Ruhe brauche, dann lasse ich es etwas lockerer angehen.“ Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Glauben Sie wirklich, dass Sie Spaß dabei haben, wenn Sie nach fast 200 Kilometern noch 30 Kilometer das Timmelsjoch hochfahren müssen?

Es ist Wahnsinn, wie viele Leute mich schon darauf angesprochen haben, seit sie mitbekommen habe, dass ich den Ötztaler fahren will. Viele haben mir erzählt, wie sehr sie schon leiden mussten. Und ich bin mir schon bewusst darüber, dass das zäh wird. Aber ich will die Strecke auf jeden Fall vor dem Rennen mal abfahren. Ob an einem Tag am Stück, weiß ich noch nicht. Die Schwierigkeit bei mir ist ja auch mein Gewicht. Ich habe zwar schon rund acht Kilo verloren, seit ich mit dem Rennsport aufgehört habe, wiege aber trotzdem noch 90 Kilo. Die Berge komme ich definitiv schlechter hoch als Pogacar. Und bergab bin ich auf dem Rennrad deutlich defensiver unterwegs als auf Ski.

Die letzte Abfahrt vom Timmelsjoch und die Zieleinfahrt in Sölden gehört für Hobbysportler zum Emotionalsten, was man auf dem Rad erleben kann. Mit welchen Gefühlen werden Sie ins Ziel fahren. Und wie werden dann Ihre Gedanken an dem Ort sein, an dem 2005 bei einem Seilbahnunglück neun Menschen – darunter Ihr Vater – starben?

Natürlich denke ich auch jetzt schon darüber nach, wie es wäre, wenn ich zusammen mit meinem Vater den Ötztaler fahren könnten. Er ist für mich immer noch ein Vorbild. Auch er war Profisportler und blieb nach seiner Karriere immer aktiv. Und ich befinde mich ja in einer ähnlichen Situation. Das Unglück, für das niemand eine Schuld traf, hat unser Leben aber natürlich gravierend geändert. Meine Eltern betrieben ein Lebensmittelgeschäft in Mittenwald, das sie sehr in Anspruch genommen hat. Und trotzdem haben sie immer die Zeit gefunden mit meinem Bruder und mir raus in die Natur zu gehen. Und natürlich ist mir durch das Unglück bis heute bewusst geworden, wie sich das Leben von einem auf den anderen Moment schlagartig verändern kann.

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„Die Berge komme ich definitiv schlechter hoch als Pogacar. Und bergab bin ich auf dem Rennrad deutlich defensiver unterwegs als auf Ski.“ Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Wie setzen Sie dieses Bewusstsein im Alltag um?

Ich möchte aus jedem Tag das Maximum für mich herausholen. Mir war schon immer egal, was die Öffentlichkeit von mir denkt. Wichtig sind für mich meine Familie, meine Freunde, mein enges Umfeld. Bezogen auf meine Tochter heißt das, dass wir ihr vorleben wollen, was für uns wichtig ist. Meine Frau und ich wollen nicht, dass sie später mal an Fernsehschauen denkt, wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert.

Haben Sie keine Angst, dass Sie der berufliche Alltag schnell wieder einholt?

Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich wieder mehr unterwegs sein werde. Aber den klaren Fokus auf die Familie werde ich dabei garantiert nicht verlieren.

Haben Sie schon konkrete Pläne?

Ich mache gerade den C-Trainerschein, ohne aber genau zu wissen, was danach passiert. Zudem arbeite ich mit meinen Partnern zusammen, zum Beispiel in der Produktentwicklung von Brillen. Es gibt viele spannende Optionen für mich, aber ich lasse das derzeit auch alles relativ entspannt auf mich zukommen.

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„Meine Frau und ich wollen nicht, dass unsere Tochter später mal an Fernsehschauen denkt, wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert.“ Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Einer Ihrer Partner ist Sölden. Ist das auch ein Grund für Sie, den Ötztaler zu fahren?

Überhaupt nicht. Der Ötztaler ist einfach ein Mythos, so wie der New-York-Marathon für Läufer. Ich komme zwar einfacher an einen Startplatz dadurch, aber ich will trotzdem keine Sonderbehandlung. Den Ötztaler will ich wie jeder Teilnehmer ganz bewusst miterleben. Von der Startnummernausgabe bis zur Siegerehrung. Die Partnerschaft mit Sölden ist vor über zehn Jahren auch völlig unabhängig von dem Unglück mit meinem Vater entstanden. Vielleicht haben sich gerade deshalb daraus so viele enge Freundschaften entwickelt.

Wenn Sie in Sölden an den Start gehen, wissen Sie dann, dass die Hobbysportler, die Sie dort treffen, unglaublich viel auf sich nehmen, um sich den Traum vom Ötztaler zu erfüllen?

Definitiv! Es ist Wahnsinn, wie viele Menschen sich darauf jedes Jahr bewerben und oft jahrelang darauf warten müssen, bis es klappt mit dem Startplatz. Menschen, die hart arbeiten und trotzdem noch die Zeit finden, sich konsequent vorzubereiten. Davor habe ich allergrößte Hochachtung. Der Sport lebt von Breiten- und Hobbysportlern und von deren Passion. Ohne sie würde es keinen Leistungssport geben.

Ex Skiprofi Thomas Dreßen im Interview zur Vorbereitung auf den Ötztaler Radmarathon
„Der Sport lebt von Breiten- und Hobbysportlern und von deren Passion. Ohne sie würde es keinen Leistungssport geben.“ Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Und was kommt nach dem Ötztaler für Sie?

Ich bin ja noch nie ein Radrennen gefahren in meinem Leben. Aber wenn mir das Spaß macht und wenn ich auch mit meiner Leistung zufrieden bin, dann kann ich mir schon vorstellen, auch mal andere Marathons zu fahren. Oder im Frühjahr oder Herbst einfach mal wie alle Rennradfahrer zum Training nach Mallorca zu gehen. Aber wenn mir der Ötztaler so richtig taugt, dann kann auch gut sein, dass ich sage: das will ich künftig jedes Jahr machen.


Ex Skiprofi Thomas Dreßen im Interview zur Vorbereitung auf den Ötztaler Radmarathon

Thomas Dreßen, Jahrgang 1993, ist der erfolgreichste Abfahrer in der Geschichte des Deutschen Ski Verbands (DSV). Seinem sensationellen Erfolg bei der Hahnenkamm-Abfahrt in Kitzbühel 2018 ließ er vier weitere Abfahrts-Weltcupsiege folgen. Allerdings war seine Karriere nach einem schweren Sturz und einem Kreuzbandriss in Beaver Creak im Dezember 2018 immer wieder von körperlichen Problemen beeinflusst. Obwohl er den Ehrgeiz hatte, im Winter 2023/2024 nochmal ganz vorne angreifen zu können, machte sein operiertes Knie mehr und mehr Probleme, weshalb sich Dreßen dazu entschloss, seine Karriere zu beenden. Auf der „Streif“ in Kitzbühel bestritt er am Ort seines größten Triumphes sein letztes Abfahrtsrennen – auf den Tag genau sechs Jahre danach. Dreßen, geboren in Garmisch-Partenkirchen, verheiratet und Vater einer Tochter, hat schon in seiner Jugend neben dem Skisport die Leidenschaft fürs Rennradfahren entdeckt – und hat nach dem Ende seiner Karriere als Profisportler damit begonnen, sich auf den Ötztaler Radmarathon vorzubereiten.

Das Interview mit Thomas Dreßen wurde veröffentlicht im Magazin TOUR, Ausgabe 9/2024.