Eigentlich tobt hier das Leben der Jugendlichen. Aber wenn Andreas Basler in den vergangenen Monaten zur Immanuel-Kant-Realschule in Leinfelden bei Stuttgart radelte, schloss er dort meist ziemlich einsam sein Rad ab. Die Schule lief auf Notbetrieb, der Lehrer arbeitete wie so viele meist von zu Hause aus. Normalerweise aber fährt Basler jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit, bei Wind und Wetter. Für einen Mountainbike-Rennfahrer sind zwölf Kilometer einfache Strecke zwar ein Klacks – aber sie reichen aus, um tagtäglich diese ganz besonderen Gravel-Momente zu erfahren: „Graveln heißt, Rennradgefühl in den Wald zu verlegen ohne all die negativen Aspekte des Straßenverkehrs“, erklärt der 35-Jährige begeistert.
Als Pendler-Fahrrad hat er seinen Crosser mit festen Schutzblechen ausgestattet und zum „perfekten Allwetterrad“ umgebaut, mit dem er von zu Hause bis zur Schule im wahrsten Wortsinne meist Querfeldein fährt. Im Training dagegen ist Basler stilsicher auf einem „echten“ Gravelbike mit Leistungsmesser unterwegs und ersetzt damit seine Rennradeinheiten mit viel Grundlage und präzisen Intervallen. Was Andreas Basler daran ganz besonders schätzt: „Die fast grenzenlose Auswahl an unterschiedlichen Touren.“
„Wege, die mit dem Mountainbike zu langweilig sind, werden beim Graveln plötzlich wieder spannend.“
Andreas Basler
Wer an einem sonnigen Wochenendtag an der Wurmlinger Kapelle seinen Blick über Tübingen in Richtung Schwäbische Alb schweifen lässt, hat gute Chancen, hier Lumir Boureanu zu treffen. Der steile Stich auf den 475 Meter hohen Kapellenberg gehört für ihn zu fast jeder Gravel-Ausfahrt. Seit drei Jahren fährt der Geschäftsführer einer IT-Firma bevorzugt auf Schotter. „Ich habe angefangen Eishockey zu spielen, als ich fünf war, habe lange Triathlon gemacht und bin viele Rennradmarathons gefahren“, sagt der 45-Jährige: „Graveln ist für mich heute nur noch reiner Spaß.“
Während früher der Trainingsplan sein Radfahrerleben bestimmt hat, ist es heute der Familienplan, sagt er augenzwinkernd. Aber der lässt ihm genügend Zeit für regelmäßige Feierabendrunden und Touren Richtung Schwäbische Alb oder Schwarzwald. „Natürlich profitiere ich noch von der Grundlage von früher“, blickt er auf seine Zeit zurück, in der er noch echte Ambitionen hatte. Möglichst lange Runden liebt er deshalb, um fernab von der Straße die Natur zu genießen. Wenn es sich ergibt, nimmt Boureanu dazu auch seine Geschäftspartner mit. „Es gibt in Führungspositionen erstaunlich viele Ausdauersportler“, sagt er und fügt lachend dazu: „Golf spielen kann ja schließlich jeder.“
„Ein Businessmeeting auf dem Fahrrad? Auf dem Gravelbike ist das problemlos möglich.“
Lumir Boureanu
Markus Finkbeiner hat einen Blick für das Schöne. Nicht nur, weil er ein maßgefertigtes Titanrad fährt, sondern auch, weil er die Landschaft so richtig genießen kann, wenn er damit unterwegs ist. Der 48-Jährige wohnt mit seiner Familie in Tübingen, ist aber mit dem Gravelbike häufig im Schwarzwald anzutreffen. Grund dafür: Seine Mutter Anne wohnt dort in Baiersbronn – und wenn er sie besucht, dann nimmt er dazu sein Fahrrad. In seiner Jugend war Finkbeiner Nordischer Leistungssportler und entdeckte später während des Studiums in den USA die Liebe zum Mountainbike, erkundete die Rocky Mountains oder Moab damit. Mittlerweile aber ist er leidenschaftlicher Graveler. Warum? „Die Strecken sind länger, variantenreicher – und man sieht einfach mehr.“
Was er am Graveler-Lifestyle besonders mag: Mit dem GPS-Gerät eine Tour durch Deutschland zu planen, die Packtaschen vollzustopfen und einfach drauf los zu fahren. Eher zufällig dagegen hat Finkbeiner zusammen mit seiner Mutter entdeckt, dass zusammen passt, was eigentlich nicht zusammengehört. Anne Finkbeiner ist dem Reiz des E-Mountainbikens erlegen. Wenn ihr Sohn zu Besuch ist, gehen sie auf Tour. Gemeinsam, wenn auch auf höchst unterschiedlichen Rädern. Und wie fühlt sich das an? „Super“, sagt Anne Finkbeiner strahlend: „Zumindest bergauf.“
„Das Rennrad war für mich immer ein Trainingsgerät. Jetzt bin ich froh, dass ich nicht mehr den Gefahren der Straße ausgesetzt bin.“
Markus Finkbeiner
Wenn Ante Botica den kleinen Hügel hinter seinem Haus in Maintal hochfährt, ist er umgeben von Obstbäumen, während im Hintergrund die Skyline von Frankfurt von der Sonne angestrahlt wird. Weg vom Trubel der Stadt, rein in die Natur – das steht sinnbildlich für die Leidenschaft zum Graveln, die der 45-Jährige 2016 für sich entdeckt hat. „Ich bin damals beim Gravelfondo mitgefahren“, erinnert er sich. Im Mittelpunkt stand dabei auf einmal das Erlebnis und nicht mehr das Ergebnis, das Botica aus seiner Rennradzeit kannte, in der er schon mal rund 8000 km im Jahr fuhr, um sich auf RTF und Marathons vorzubereiten. „Ich wollte plötzlich einfach nur noch Spaß haben“, schildert der Sozialpädagoge die Initialzündung, die vor fünf Jahren sein Radfahrerleben veränderte.
Mittlerweile nimmt er an vielen Gravel-Events teil, genießt dabei die freundschaftliche Atmosphäre und ist selbst zum Veranstalter geworden. Zudem hat der Familienvater Spaß daran gefunden, dem Alltag zu entfliehen. Bikepacking hat es ihm angetan. Taschen ans Rad und losfahren. Die Ruhe genießen, im Einklang mit der Natur sein. Irgendwo am Waldrand im Schlafsack übernachten. Ein Feuer zu machen. Morgens mit der Bialetti einen Kaffee kochen. Gerne auch im Winter: „Man braucht nur das richtige Equipment, dann friert man auch nicht.“
„In meine Bikepacking-Taschen stopfe ich eigentlich immer zu viel rein, bevor ich losfahre. Mein Rad wiegt dann meistens 20 Kilo und mehr.“
Ante Botica
Bei Anke Drescher darf’s immer ein bisschen mehr sein. „Den ersten 250er dieses Jahr hab ich schon erledigt“, sagt sie, die eigentlich vom Laufen und Ultra-Triathlon kommt. Seit 30 Jahren fährt sie mit Unterbrechungen Rennrad. Als ihr Partner Georg Weiss allerdings 2016 von einem Auto angefahren wurden, war klar: „Wir wollten weg von der Straße.“ Und das mit aller Konsequenz. So ziemlich jede freie Minute, rund 20 000 km im Jahr, verbringen sie auf ihren Gravelbikes, bewältigen damit regelmäßig die rund 180 km, die zwischen ihren Wohnorten in der Nähe von Karlsruhe und Frankfurt liegen.
Während Corona 2020 scheinbar die ganze Welt lahmgelegt hatte, ließen sich die beiden Gravel-Enthusiasten davon nur wenig beeindrucken. Sie waren auf dem Rennsteig oder im Schwarzwald unterwegs und haben an Langstrecken-Events teilgenommen. Und sie sind zu zwei ultraharten Bikepacking-Touren in die Westalpen aufgebrochen. Das Ziel hat Ankes „schnellere Hälfte“ – wie sie Georg nennt – formuliert: die höchsten nicht asphaltierten Straßen der Alpen zu erklimmen. In Alpe d’Huez wollten sich die beiden dabei nach den Strapazen des Tages eigentlich ein Hotelzimmer gönnen. „Wir hatten dann aber die Wahl zwischen einem Zimmer für 135 Euro oder Schlafsack im Parkhaus.“ Ihre Entscheidung? Eigentlich klar: „Wir haben das Parkhaus genommen.“
„Graveln, die Bike-Adventures und die vielen kleinen persönlichen Fortschritte haben die Pandemie-Zeit für uns viel erträglicher gemacht.“
Anke Drescher und Georg Weiss
Die Reportage wurde im Magazin TOUR, Ausgabe 5/2021, veröffentlicht.