Nein, das ist nicht steil. Das ist absurd! Ich kämpfe mich das Mahlknechtjoch hoch. Es fängt an zu regnen, und der grobe Schotterweg türmt sich vor mir auf. Der Untergrund wird immer loser und rutschiger. Kurz vor der Passhöhe demoralisieren mich zwei Hänflinge, die sich unterhalten und scheinbar ohne Anstrengung völlig locker an mir vorbeifahren, während ich schweren Schritts eine Wanderung mache. Eine Wanderung mit Bike-Begleitung. Nein, das gebe ich mir nicht! Ich hör auf. Ich dreh um und fahr ins Tal.

Eine Gruppe von Mountainbikern fährt steil den Berg hoch.
Wäre man zu Fuß schneller? Diese Frage drängt sich bei der Steilheit der Anstiege praktisch ununterbrochen auf. Sportograf

Drei Wochen später stehe ich am Start des Sellaronda Hero. Dass ich bei meiner Generalprobe beschlossen hatte zu kneifen – vergessen. Aus drei Gründen: Ich bin halbwegs fit. Ich habe Zeit. Und die Wettervorhersage ver- spricht prächtiges Sommerwetter. Täuscht sich aber. Am Renntag ist es kühl, es wird heftig regnen und gewittern. Aber die Startnummer ist am Rad, und deswegen gibt es kein Zurück mehr. Seit knapp 20 Jahren fahre ich jetzt Mountainbike und weiß deshalb, was ich kann. Nicht wirklich schnell fahren zum Beispiel. Und erst recht nicht wirklich schnell steil bergauf fahren.

Das Panorama des Sellastocks.
87 Kilometer, 4700 Höhenmeter. Nicht auf asphaltierten Passstraßen, sondern überwiegend auf schmalen Pfaden. Die Umrundung des imposanten Sellastockes mit dem Mountainbike ist eine riesige Herausforderung. Sportograf

Bei Langstreckenrennen gehe ich deshalb zwar grundsätzlich mit Gelassenheit an den Start. Aber im Vorfeld des Sellaronda Hero mache ich alle in meinem Umfeld schalu. 4700 Höhenmeter auf nur 87 Kilometern – das ist nicht unbedingt das Terrain für jemanden mit 85 Kilogramm auf 190 Höhenzentimeter. „Vor was hast du Angst?“ fragt mich verständnislos Kollegin Guni. „Vor den Schmerzen. Davor, mich zu blamieren und aus dem Zeitlimit zu fliegen.“ Sie schüttelt den Kopf und denkt sich wahrscheinlich: „Dann lass es doch einfach.“

Ich fahre mit einer Gruppe von Mountainbikern vor dem Dolomitenpanorama.
Das Panorama ist überwältigend. Angesichts der Anstrengungen kann das aber kaum einer der 4000 Teilnehmer genießen. Sportograf

Die erste Passhöhe ist bei Kilometer 5 erreicht. Der weg dorthin: steil, aber fahrbar. „Welcome to hell’s kitchen“ hatte mir mein Südtiroler Kumpel Norbert noch zuvor aufmunternd auf Facebook geschrieben, aber noch bin ich guter Dinge. Um nicht zu sagen tendenziell übermütig, weil ich schneller oben bin als erwartet. Etwas oberhalb des Grödner Jochs geht’s auf die erste Abfahrt bis runter nach Corvara. Spaßig. Aber mit ganz schön viel Verkehr auf den Trails. Auf die Bergstation Arlara kann man von Corvara aus problemlos hinaufsehen. Und auf den Weg, der sich entlang der Seilbahn schlängelt, auch. Um die 30 Prozent steile Rampen zwingen viele von uns das erste Mal so richtig in die Knie.

Eine Gruppe Mountainbiker fährt einen steilen Anstieg hoch.
Die Organisation ist perfekt. Der technische Aufwand immens. Trotzdem muss jeder Meter der Strecke hart erkämpft werden. Sportograf

Oben wird es endlich flacher. Der Weg zur Pralongià-Hütte öffnet den Blick auf traumhaftes Dolomitenpanorama. Genau das, was abertausende Skifahrer im Winter genießen. Und auch immer mehr Biker. Weil sie bergauf den Lift nehmen. Bergab ist es nicht wirklich so, dass man sich ausruhen könnte. Die Strecke ist gespickt mit vielen Trails, ausge- waschenen steilen Schotterpisten. Alles gut fahrbar eigentlich. Aber nicht so gut fahrbar, wenn man vorne, hinten, links und rechts umringt ist von Typen, die an diesem Tag nur eines im Sinn haben: Heroen zu werden.

Ich fahre auf einer Flachpassage über eine grüne Wiese.
Die Natur ist lieblich. Und tatsächlich gibt es entspannte Passagen auf der Strecke. Allerdings sehr wenige. Sportograf

Ich hatte verdrängt, was das Höhenprofil eigentlich unmissverständlich ankündigte. Wenn es bisher steil war, was bitte soll dann das hier sein? Mega? Giga? Gaga? In den Lenker beißen, die Kurbel rumdrücken. Irgendwie muss es gehen. Der erste Teil des fast 1000-Höhenmeter-Anstiegs nach Portavescovo verläuft auf Asphalt. Dann auf Schotter. Dann auf grobem Geröll. Es fühlt sich an wie Bergsteigen. Und als ich mich umdrehe und hinunterschaue, weiß ich, warum es sich anfühlt wie Bergsteigen.

Ich fahre mit einer Gruppe von Mountainbikern vor dem Dolomitenpanorama.
Viel Verkehr: Die schmalen Pfade sorgen für dicht gedrängte Gruppen innerhalb des Starterfelds. Sportograf

Ungefähr dort, wo es wieder flacher und fahrbar wird, zeigt der Tacho 38 Kilometer an. Und fünf Stunden Fahrzeit. Ich frage mich ernsthaft, ob ich ohne Rad schneller gewesen wäre. Und ich frage mich ernsthaft, wie es möglich ist, dass die Profis, die an diesem Tag um die Marathon-WM kämpfen, alle schon im Ziel sind. Auf beides habe ich bis heute keine zufriedenstellende Antwort gefunden. Was mich aber beruhigt, ist, dass Torsten Marx, der als Kreidler-Teamfahrer auf Platz 59 landet, meine Frage:„Wer von euch fährt denn da hoch?“ ziemlich schnell und unmissverständlich beantwortet mit: „Keiner.“

Wir fahren über einen schmalen und kurvigen Pfad.
Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und bei aller Anstrengung darf man nicht vergessen: Wir sind alle freiwillig hier. Sportograf

Unterwegs Selfies zu schießen oder kurze Filmchen mit dem Smartphone zu drehen kann manchmal dankbar sein. Etwa genau dann, wenn man einen Grund sucht, den hämmernden Puls zu beruhigen. „Brauch ich alles aktuell für unsere Homepage“, ist meine vorbereitete Antwort, falls mich jemand fragen sollte, warum ich das mache. Es fragt mich aber keiner. Am höchsten Punkt des Rennens scheint immerhin endlich die Sonne, es ist trotz der Höhe halbwegs warm. Ein Trail zieht sich leicht ansteigend rüber zur Straße des Passo Pordoi. Die letzten Höhenmeter auf Asphalt fühlen sich quasi an wie eine Abfahrt, bevor‘s ziemlich rasant, technisch und steil ins Tal nach Canazei geht, dem Ort vor dem letzten Anstieg.

Alban Lakata als Sieger des Profirennens im Ziel.
Unglaublich: Alban Lakota gewinnt das Rennen der Profis in gerade einmal vier Stunden und 24 Minuten. Sportograf

Nein, das ist nicht steil. Das ist absurd! Ich kämpfe mich das Mahlknechtjoch hoch. Es fängt an zu regnen, und der grobe Schotterweg türmt sich vor mir auf. Der Untergrund wird immer loser und rutschiger. Kurz vor der Passhöhe demoralisiert mich nichts mehr, während ich schweren Schritts eine Wanderung mache. Eine Wanderung mit Bike-Begleitung. Diesmal fahr ich über das Joch. Weil ich weiß, dass nur noch ein moderater Gegenanstieg kommt. Weil  ich weiß, dass ich nur noch 15 Kilometer bis ins Ziel habe. Und weil die Weißwein schlürfenden Helfer an der letzten Verpflegungsstelle prognostizieren, dass das heftige Gewitter in fünf Minuten vorbei sein wird. Womit sie zum Glück Recht haben.

Ich sitze erschöpft aber glücklich neben meinem Rad im Zielbereich.
Im Ziel und auch am Ende. „Das war das Krasseste, was ich mit dem Mountainbike bislang gemacht habe“, lautet mein Fazit im Ziel. Sportograf

Schaulaufen nach Wolkenstein. In der Gewissheit anzukommen, in der Gewissheit, dass die Schinderei ein Ende hat, in der Gewissheit, nicht mehr durch einen Sturz ausgebremst zu werden. Ich sitze in einer Bar direkt am Ziel und trinke ein Weißbier. Weil ich finde, dass ich das verdient habe. Bis es leer ist, dauert es eineinhalb Stunden. Das Ziel ist mittlerweile abgebaut, aber es kommen immer noch einige an. Sie alle werden von ihren wartenden Freunden frenetisch bejubelt, aber sie sind aus dem Zeitlimit geflogen. Nicht, dass das schlimm wäre. Ganz im Gegenteil. Aber trotzdem hatte ich genau davor, liebe Guni, Angst. Wirklich.

Die Reportage wurde im Magazin MOUNTAINBIKE, Ausgabe 9/2015, erschienen.