Der Bader Anton aus dem Ammergau ist ein Bursche wie aus dem Bilderbuch. Er hat einen imposanten Bart, ein beeindruckendes Auftreten und einen formidablen Ranzen über seiner Lederhosn. Und Hände zum Fürchten. Eigentlich. Der Bader Anton hat beim Fingerhakeln jahrelang in seiner Gewichtsklasse alle Gegner dominiert. Aber heute scheidet er bei den Alpenländischen Meisterschaften in Mittenwald früh aus. Viel zu früh. Einer wie er braucht jetzt „keinen Psychologen“, wie er lapidar sagt. Das hält er schon aus, obwohl es schmerzt. Auch die Wunden seiner beiden blutenden Mittelfinger, von denen es riesige Hornhautschichten gerissen hat, werden in zwei Wochen wieder verheilt sein. Und überhaupt: Das hier ist sowieso kein Platz für Jammerlappen.

Blutende Finger eines Fingerhaklers 26 Bilder

Der Bader Anton ist eine schillernde Figur unter den Fingerhaklern. Er ist bayerischer Landesverbandsvorsitzender und einer der erfolgreichsten Kämpfer weit und breit. Alle haben erwartet, dass er in der Mittenwalder TSV-Turnhalle wieder wie so oft gewinnt. Dort, wo – so steht es in der Lokalzeitung – „die Grünkopf-Musi und die Isartaler Buam sowie die Goaßlschnalzer für Unterhaltung“ sorgen und die „Familie Hornsteiner“ sich um die Bewirtung kümmert. Sie wird an diesem Tag signifikant beschäftigt sein. Das Weißbier fließt schon am frühen Morgen. Die Musi spielt auf. Die Halle ist prall gefüllt mit Männern, die Lederhosen und Trachtenhüte tragen. Auf der Bühne stehen ein Tisch und vier Hocker. Und es wirkt, als würde hier gleich eine Volkstheatergruppe ihren großen Auftritt haben.

Fingerhakeln bedeutet endlose Dramen, furiose Triumphe, gewaltige Schmerzen

Was dort oben an diesem Tag passieren wird, ist aber ein Theater der besonderen Art. Mit unbarmherzigen Entscheidungen, manchmal schier endlosen Dramen, furiosen Triumphen und gewaltigen Schmerzen. Hier werden sich prächtige Mannsbilder gegenübersitzen, die Hosenträger herunterlassen, einen ihrer Finger in einen Lederring einhaken, sich an der Tischkante mit dem Schienbein verkeilen und versuchen, sich gegenseitig über den Tisch zu ziehen. Und werden sie einmal von unkontrollierbaren Kräften zurückgeschleudert – hinter ihnen werden wohlgeformte Wonneproppen sitzen und sie auffangen.

Zwei Fingerhakler kämpfen an einem Wettkampftisch.
Auch wenn er mal verliert – ein Mannsbild wie der Bader Anton braucht dann keinen Psychologen. Der Schmerz vergeht. Und die Wunden der aufgerissenen Finger sind nach zwei Wochen ohnehin verheilt. Dan Zoubek

Fingerhakeln hat in Bayern eine lange Tradition. „Früher war es ein Kräftemessen im Wirtshaus, um Streitigkeiten beizulegen oder auch Frauen zu beeindrucken“, erklärt der Frank Peter. Er ist Vorsitzender des gastgebenden Mittenwalder Fingerhaklervereins und selbst einer von 15, die dort aktiv hakeln. Die uralte bayerische Kraftmeierei ist heute aber längst vom Wirtshaus in die Turnhallen umgezogen. „Mittlerweile“, sagt der Frank Peter, „ist das ein ernsthafter Sport geworden“. Nicht nur mit einheitlichen Regeln, sondern auch mit einer seriösen Organisation.

Ein Fingerhakler mit schmerzverzerrtem Gesicht
Früher war es ein Kräftemessen im Wirtshaus, um Streitigkeiten beizulegen oder Frauen zu beeindrucken. Heute ist es ein ernsthafter Sport mit einheitlichen Regeln und seriöser Organisation geworden. Dan Zoubek

Mit Dehnungsschmerzen ist Fingerhakeln ein spannendes Spektakel

Einer, der dafür sorgt, dass dabei immer alles mit rechten Dingen zugeht, ist der Felner Sigi von den Reichertshofener Fingerhaklern aus Oberfranken. Er wurde dieses Jahr Bayerischer Meister in seiner Klasse und ist gleichzeitig auch als Schiedsrichter tätig. Die Regeln, erklärt er, sind ziemlich einfach. Auf einem 79 Zentimeter hohen, 109 Zentimeter langen und 74 Zentimeter breiten Tisch sind drei Linien angebracht. Die Mittellinie und aus Sicht des Schiedsrichters jeweils 32 Zentimeter links und rechts davon Seitenlinien.

Zu Beginn des Wettkampfes muss sich die Mitte des Lederrings mit den eingehakten Fingern über der Mittellinie befinden. Sobald der Schiedsrichter „Ziagts“ ruft, geht’s los. Gewonnen hat derjenige, der seinen Kontrahenten so weit über den Tisch zieht, bis die Mitte des Lederrings die Seitenlinie überschritten hat. Manchmal geht das schnell und unspektakulär. „Kraft, Technik, Schnelligkeit“, sagt der Frank Peter, sind die Fähigkeiten, die ein Fingerhakler beherrschen muss. Kraft, weil es ein Kraftsport ist. Technik, weil sie Kraft spart. Und Schnelligkeit? „Wenn’s losgeht, musst du sofort reagieren, sonst hast du keine Chance mehr“, erklärt er. Wenn sich Kraft, Technik und Schnelligkeit aber die Waage halten, gewinnt der, der seine Schmerzen länger erträgt. Dehnungsschmerzen wie der Fingerhakler sagt. Und dann ist Fingerhakeln ein äußerst spannendes Spektakel.

Ein Fingerhakler trainiert an einer alten Garagentorfeder.
Vorbereitung ist die halbe Miete. Mit ausrangierten Garagentorfedern wärmen die Wettkämpfer ihre Finger auf. Dan Zoubek

„Wir wollen nicht, dass unser Sport veräppelt wird“

Die Kräfte beim Fingerhakeln sind gewaltig, weshalb die beiden Männer am Sanitätertisch ähnlich viel zu tun haben wie die Familie Hornsteiner. Aufgerissene Finger sind im Wettkampf eine Allerweltsblessur. Ob die Hornhaut hält, ist aber meistens reine Glückssache. Deshalb hat der Felner Sigi drei trainierte Hakelfinger. Beide Mittelfinger und einen Ringfinger. Sonst hätte er heute schon ziemlich früh einpacken können, keine Chance gehabt, um am Ende wenigstens auf Platz vier zu landen. Manche haben sogar vier Finger, mit denen sie hakeln. Das Reglement erlaubt theoretisch alle – mit Ausnahme der Daumen.

„Wenn du gewinnst“, beschreibt der Felner Sigi ein mysteriöses Hakel-Naturgesetz, bleiben die Hände heil. Wenn nicht, „sehen sie aus wie die Sau“. Dann platzt die Hornhaut auf. Blut tropft. Die Spuren auf dem Linoleumboden der TSV-Turnhalle führen in zwei Richtungen: zum Sanitätertisch und auf die Toilette. „Das gehört eben dazu“, sagt der Felner Sigi: „Schwere Verletzungen wie in anderen Sportarten gibt es bei uns aber nicht.“ Fingerhakeln zu reduzieren auf Männer, die Bier trinken und sich wie Wahnsinnige die Finger einreißen, sei ungerecht: „Wir wollen nicht, dass unser Sport veräppelt wird.“

Ein Fingerhakler fällt nach hinten und wird dabei aufgefangen.
Am Hakeltisch geht’s richtig zur Sache. Wer nach hinten fällt, wie der Frank Peter, fällt aber weich – und wird von wohlgeformten Wonneproppen aufgefangen. Dan Zoubek

Rivalität gibt’s nur am Hakeltisch

Ohne ernsthaftes Training geht gar nichts. Und ohne Vorbereitung sowieso nicht. Vor seinem Wettkampf ist der Felner Sigi konzentriert. Zieht mit einem Finger an ausrangierten Garagentorfedern. Macht Liegestützen. Wärmt sich auf. So wie der Wölfel Maxi von den Fingerhaklern Laufach aus dem Spessart. Sieben-Kilo Gewichte ziehen seine Mittelfinger unbarmherzig nach unten. Minutenlang. Der Wölfel Maxi ist in sich gekehrt. Sein Blick ist extrem fokussiert und stier. Die Kämpfe in der Mittelgewichtsklasse gewinnt er alle. Fast. Einmal hat er keine Chance. Mund abputzen. Erst, wer zweimal verloren hat, so sagt es das Reglement, scheidet aus. Die Mittelgewichtsklasse ist äußerst ausgeglichen. Neben dem Wölfel Maxi bleiben am Ende zwei Hakler mit je einer Niederlage übrig. Er zieht auf der Bühne seinen Halbfinalgegner zuerst per Los und danach über den Tisch. Seinen Finalgegner auch. Grenzenloser Jubel. Alle Anspannung verflogen.

Ein Fingerhakler bejubelt seine Sieg.
Der Wölfel Maxi jubelt! Er ist gerade Alpenländischer Meister geworden, seine extreme Konzentration und Anspannung fällt auf einmal von ihm ab. Dan Zoubek

Der Eierstock Magnus von den Fingerhaklern aus dem Gau Auerberg dagegen geht die ganze Sache deutlich gelassener an. 64 Jahre hat er mittlerweile auf dem Buckel. 1986 hat er mit dem Hakeln angefangen und war nie Letzter, obwohl er damals nicht wirklich trainiert hat. „Die Kameradschaft unter den Fingerhaklern“, sagt er, „ist wunderbar: Wir sind wie eine große Familie.“ Rivalität gibt’s allerhöchstens für ein paar Sekunden am Hakeltisch. Der Eierstock Magnus hat es zu zwei Alpenländischen Vizemeistertiteln gebracht und will noch lange weitermachen. Auch deshalb, weil er den Wanderpokal gestiftet hat, den die beste Mannschaft gewinnt. Heute reicht es für ihn persönlich nur zu Platz vier. „Aber hoffentlich gewinnen wir meinen Pokal“, sagt er.

Ein Fingerhakler in Tracht lacht zufrieden.
Voller Gelassenheit: Der Eierstock Magnus, der mit seinen 64 Jahren ein Fingerhakel-Urgestein ist. Dan Zoubek

So sehen Siegerhände aus

Die Alpenländischen Meisterschaften sind sozusagen der internationale Saisonhöhepunkt der Fingerhakler. Bei den Bayerischen und bei den Deutschen Meisterschaften zuvor sind die Bayern noch unter sich. Aber im Spätsommer messen neun bayerische und drei österreichische Gaue ihre Kräfte. Für den Frank Peter und seinen Verein ist es eine Ehre, diesmal der Veranstalter zu sein. Sie sind umtriebig dort im Gau Werdenfels, lebhaft wie die ganze Szene.

Und trotzdem macht er sich Sorgen um den Nachwuchs. Nicht in allen Familien nämlich geht es so zu wie beim Utzschneider Josef. Derjenige, der seit Jahren im Schwergewicht jeden über den Tisch zieht, der ihm gegenübersitzt. Angefangen hat der Utzschneider Josef, als er sechs Jahre alt war. Sein Sohn brennt jetzt schon darauf, in die Fußstapfen seines Fingerhakler-Vaters zu treten. Vielleicht auch deshalb, weil der Utzschneider Josef so viel Spaß an der Sache hat. Er lacht, flachst. Und geht mal so nebenbei auf die Bühne. Zieht. Gewinnt. Seine Waffen: die Mittelfinger. Damit macht er im Training Klimmzüge. Es sind die einzigen, mit denen er hakelt. „Die haben schon immer gereicht“, sagt er und schaut sie zufrieden an. Siegerhände eben.

Jubelndes Publikum beim Fingerhakeln.
Die Kameradshaft unter den Fingerhaklern ist wunderbar. Sie sind wie eine große Familie. Rivalität gibt es allerhöchstens für ein paar Sekunden am Hakeltisch. Dan Zoubek

Verbundene Mittelfinger am Siegerpokal

Davon kann der Fichtner Michael aus dem Ammergau nur träumen. „So rasiert wie heute bin ich schon lange nicht mehr worden“, sagt der 17-Jährige und zeigt seinen fürchterlich lädierten Mittelfinger. „Meine Freundin schimpft wieder, wenn sie das sieht“, sagt er. Mädchen beeindrucken sieht irgendwie anders aus. Die jungen Mittenwalderinnen, die zum Rauchen vor der Halle stehen, sind trotzdem durchaus angetan von den „echten Mannsbildern“ da drin. Keine von ihnen hat aber einen Hakler als Freund. Und das, obwohl der Weißmann Schorschi, der neben ihnen steht, so ein Prachtexemplar ist. Sind denn Fingerhakler jetzt attraktiver als alle anderen? Der Weißmann Schorschi lupft den Hut, grinst selbstverliebt und sagt: „Schau mi o!“

Ein Fingerhakler in Tracht trinkt aus einem Pokal.
Die Zutaten eines Fingerhaken-Wettkampfes: eine Lederhose, ein Trachtenhut, ein mit Bier gefüllter Pokal und ein verbundener Mittelfinger. Dan Zoubek

Ein zufriedenes Grinsen blitzt glücklicherweise am Ende des Abends auch beim Eierstock Magnus durch den langen, weißen Vollbart. Und das, obwohl seine Auerberger knapp, mit nur sieben Punkten Rückstand, die Mannschaftswertung verloren haben. Gegen die einheimischen Hakler vom Gau Werdenfels. „Werdenfelser sind die besten auf der Welt“, singen diese laut im Chor. Und sie lassen mit verbundenen Mittelfingern den Wanderpokal jubelnd kreisen, der prall gefüllt ist mit dem, was die Familie Hornsteiner den lieben langen Tag in Strömen ausgeschenkt hat.

Die Reportage wurde veröffentlicht im Magazin LIMITS, Ausgabe 2/2018.