Che Guevara und Chevrolets, Cocktails und Zigarren, Musik und Lebensfreude. Kuba lebt von Klischees – und Kuba pflegt diese Klischees! In Cárdenas, einer einst bedeutenden Hafenstadt, ist davon aber herzlich wenig zu spüren: 66 Fahrradverrückte, die aufgebrochen sind, um auf einer organisierten Fernfahrt zwei Wochen lang mehr als 1000 Kilometer um die Insel zu rollen, sammeln hier gerade ihre ersten Eindrücke. Kratergleiche Schlaglöcher, zerfallene Häuser, verarmte Menschen, stinkende Autos, verlotterte Pferdefuhrwerke – Cárdenas, nur 25 Kilometer vom Touristenparadies Varadero entfernt, ist dabei, zugrunde zu gehen.
Wenn wir am Ende unserer Rundfahrt wieder hierher zurückkehren, werdet ihr Kuba mit anderen Augen sehen“, verspricht Tourchef Marcel Iseli und erntet dafür zunächst einige skeptische Blicke. Ist das das Kuba, das alle erwartet haben? Beruhigend zu wissen: Die Prognose des Sport-Direktors von Bicycle Holidays Max Hürzeler basiert auf einem reichen Erfahrungsschatz.
Marcel ist bereits zum vierten Mal mit einer Radfernfahrt hier. „Kuba“, sagt er, „gehört zu den schönsten Ländern, die man mit dem Rennrad erkunden kann.“ Warum? „Weil es sich anfühlt wie eine Reise in die Vergangenheit, weil sich das Land ständig verändert, weil die Menschen faszinieren und ihre Fröhlichkeit ansteckend ist.“
Während der ersten Tage der Fernfahrt dominieren allerdings noch soziologische Prozesse den Alltag der Radurlauber. Wer fährt mit wem in einer der sechs geführten Gruppen? Wer hat welches Material dabei? Wer sitzt mit wem beim Abendessen? Und wer gründet den Havanna-Club an der Bar? Kurt etwa, der Alters-Vizepräsident der Gruppe, lässt es auf der Straße ganz entspannt angehen. Und er scheut sich nicht davor, auch mal in den Begleitbus einzusteigen. Seine schlüssige Begründung: „Ich bin ja im Urlaub.“
Tobias, ein nicht ganz austrainierter Lebemann und mit seinen 28 Jahren der Jüngste, drückt dagegen in der Spitzengruppe voll aufs Gas. Seine Rechtfertigung: „Ich brauch’ das im Urlaub!“ Marianne und Willi wiederum reihen sich als erfahrene Fernfahrer unaufgeregt in der Mitte ein. „Wir lieben es, mit dem Fahrrad Länder neu zu entdecken und trotzdem den Komfort einer perfekt organisierten Reise zu genießen“, sagt Marianne. Auf Kuba waren sie bislang immer dabei – diesmal kommen sie direkt von einer Rundfahrt in Argentinien. Fast, zumindest: „Wir waren kurz daheim in der Schweiz – um unsere Wäsche zu waschen.“
Drinnen gibt’s ein paar Mojitos zu einer edlen Chiba. Sportliche Lebensweise sieht anders aus. Eigentlich.
Zu Hause fällt gerade der erste Schnee, als sich im kubanischen Winter bei knapp 30 Grad die heterogenen Charaktere zu homogenen Gruppen formen. Spätestens nach der dritten Etappe haben sich die Mechanismen eingespielt: Hände und Schlaglöcher stehen sich nicht mehr als Klassenfeinde gegenüber, die Bronchien reagieren nicht mehr gereizt darauf, dass die Autos zwar ganz schön, deren Abgaswolken aber auch ganz schön groß und dunkel sind. Immer weiter öffnen sich die Sinne für das kubanische Leben – und für das Land und seine Leute …
Gehört der Besuch bei Che Guevaras Ruhestätte – mit politisch unkorrekter Ruhestörung durch die klackenden Schuhplatten – noch zum touristischen Pflichtprogramm, entsteht immer mehr Raum für die Kür: Ruhetage in Havanna und Trinidad, jeweils nach drei Etappen am Stück – tragen dazu natürlich erheblich bei, auch wenn Tobias warnt: „Die Ruhetage sind die anstrengendsten.“
Während in den Hotelbars der Eindruck entsteht, das Repertoire kubanischer Musiker bestünde nur aus den beiden Liedern „Comandante Che Guevara“ und „Guantanamera“, nehmen die Ohren draußen plötzlich ganz andere Klänge auf. Aus einem verlassenen Hinterhof in Trinidad erschallen etwa Töne von fünf Männern, die mehr Rhythmus im Blut zu haben scheinen als 80 Millionen Deutsche zusammen. Oder aus der Bar Monserrat, neben Hemingways Stammkneipe in Havanna, wo der Koch begeistert aus der Küche kommt und spontan die Percussion schlägt. Währenddessen bringt eine begeisternde Combo die Bar zum Kochen.
Draußen wechselt derweil ein junger Mann – mitten auf der Hauptstraße und in aller Ruhe – einen Reifen seines Chevrolets. Drinnen gibt’s ein paar Mojitos zu einer edlen Cohiba. Sportliche Lebensweise sieht anders aus. Eigentlich. Aber: Kubas Klischees füllen sich immer mehr mit Leben. Man kann so eine Rundreise auch im klimatisierten Bus machen“, sagt Marcel. „Aber hat man dann Kuba richtig erlebt?“ Das Kuba, auf dessen Autobahnen Pferdefuhrwerke fahren? Das Kuba, das sich unverfälscht zeigt, wenn man auch mal in eine entlegene Gegend kommt oder durch eine Nebenstraße fährt? Das Kuba, in dem Rad fahrende Touristen begeistert angefeuert werden, in dem aus allen Ecken Musik dringt und sich die Menschen des Lebens erfreuen?
Diese intensiven Erlebnisse lassen Cárdenas bei der Rückkehr in einem völlig neuen Licht erleuchten. Die Armut scheint von kubanischer Herzlichkeit wie weggeblasen. Ein Dosensammler ist beim letzten Boxenstopp so gut aufgelegt, dass er sich von Tobias sogar das Rad „klauen“ lässt. Auf einmal ist der bettelarme Mann der reichste weit und breit. Weil er sein Lachen teilen kann. Mit allen anderen.
Die Reportage wurde im Magazin ROADBIKE, Ausgabe 3/2011, veröffentlicht.