You can take the lead.“ Der Aufkleber auf der linken Seite seines Helmes passt irgendwie zu Krishnas unscheinbarer Souveränität. Es interessiert ihn schlichtweg nicht, wer von uns der Beste ist, wer von uns vorne fahren will. Krishna wird sich mit uns auf keine Spielereien einlassen. Das ist von Anfang an klar. Aber Krishna wird uns als Guide begleiten. Zwei Wochen im Himalaja, rund um die Annapurna, über den Thorong-La-Pass – auf 5416 Metern gelegen – und damit der höchste ganzjährig befahrbare Pass der Welt. Andi, Bernd und ich können nur erahnen, was da auf uns zukommt.
Im Gegensatz zu Krishna, der in Kathmandu Fleisch verkauft und sich als Mountainbike-Guide ein Zubrot verdient. Und im Gegensatz zu Michael, der Nepal liebt wie sein Zuhause und deshalb das Reisebüro „Himal Spezialreisen“ gegründet hat. Seit Jahren schon will Micha uns den Himalaja zeigen, und jetzt sind wir plötzlich hier. Trotz Erdbeben im letzten April. Trotz einem Haufen Arbeit im Büro. Und trotz ganz schön viel Bammel. Eigentlich geht’s ja nur einmal hoch. Und einmal wieder runter. Aber wie vertragen wir denn die Höhe? Die Kälte? Den Komfortverzicht? Und vor allem: Vertragen wir uns?
Wenn mal was schiefgeht: Bloß kein‘ Stress …
Ich geb’s zu, dass ich im Urlaub ungerne auf Komfort verzichte. Und deswegen habe ich am meisten Bammel vor unbequemen Betten und Plumpsklos. Aber wir haben ja zum Glück nicht viel Zeit zum Überlegen. Zwei Wochen wollen wir unterwegs sein, eigentlich sieben Tage zu wenig. Die erste Nacht auf der Pritsche in einer simplen Lodge macht uns damit bekannt, was uns die nächsten Abende und Nächte erwarten wird. Stirnlampe und Schlafsack. Strom haben wir in den Zimmern keinen. Geschweige denn Internet. Es dauert nicht wirklich lange, bis wir begreifen: Unsere Smartphones bleiben hier aus.
Bevor wir überhaupt nennenswert an Höhe gewonnen haben, kommen wir hier erst mal ordentlich runter. Und das hilft, um dieses bettelarme Land mit seiner unglaublich reichen Natur zu verstehen. Zu begreifen, warum Krishnas Augen immer leuchten. Krishna hat keinen Stress, wenn unterwegs mal was schiefgeht. Wenn Krishna, der mit seiner Familie in einer Wellblechhütte unter einfachsten Umständen lebt, Sorgen hat, dann sind das andere Sorgen als unsere.
In dreieinhalb Tagen wollen wir von Besi Sahar aus Manang auf 3540 Metern erreichen. Früher gab es nur den Trekkingpfad auf der rechten Talseite. Oft unwegsam und unfahrbar. Oft ausgesetzt und sehr gefährlich. Inzwischen aber ist auf der anderen Talseite eine durchgehende Jeep-Piste entstanden. Kein Europäer würde auf dieser Holperstrecke seinen SUV vom Fleck bekommen. Aber in Nepal herrscht reger Verkehr. Dank Micha haben wir einen guten Plan. Wir fahren zweieinhalb Tage Jeep-Piste, um voranzukommen und an Höhe zu gewinnen. Und dann von Lower Pisang nach Manang mit einer Extraschleife über atemberaubende Trails vor atemberaubendem Panorama.
Immerhin wärmt die Sonne tagsüber auf
Lower Pisang liegt auf 3200 Metern. Mittlerweile habe ich mich an Andi gewöhnt. Wir haben schon ein Büro geteilt, sind mit dem Rennrad an einem Tag über die Alpen gefahren und haben zusammen Silvester gefeiert. Aber im Doppelzimmer haben wir noch nie zusammen übernachtet. Was ich irgendwie wusste: Andi schnarcht gewaltig. Was ich aber nicht wusste: Andi ist ein Warmduscher. Genau wie ich. Und deshalb hatten wir Bammel. Vor der Kälte. Das stellt uns vor zwei Probleme: Nachts ist es so eisig, dass wir uns überwinden müssen, zum Pinkeln aufzustehen. Und Duschen hat was von Ice Bucket Challenge. Immerhin: Tagsüber scheint, wie es sich für den November in Nepal gehört, die Sonne. Und die wärmt uns auch in dieser Höhe noch wohltuend auf.
Manang hat nach dreieinhalb Tagen Einsamkeit fast schon etwas Unheimliches. Es ist das Sammelbecken aller Trekker und Biker, bevor es endgültig hinaufgeht Richtung Thorong-La-Pass. Hier legen alle einen Tag zur Akklimatisation ein. Und deshalb gibt es hier so etwas wie Zivilisation. Wir gehen ins Kino. Ein gemauertes Erdloch mit Beamer, in dem wir mit Tee und Popcorn bewirtet werden. Während wir dick eingepackt sind, sitzt Indra, einer unserer drei Träger, barfuß in Badelatschen neben uns. Und nach dem Film erleiden wir einen üblen Rückfall. Im Hotel funktioniert das Internet. Wie Junkies drücken wir auf unseren Smartphones rum. Eigentlich waren wir ja schon runtergekommen …
Wir sind alle mit uns selbst beschäftigt
Ich wache nachts auf. Nicht weil Andi schnarcht. Sondern weil ich glaube, dass ich keine Luft mehr bekomme. Und weil ich Kopfweh habe. Und weil ich Bammel habe. Vor der Höhe. Und weil das längst noch nicht das Ende ist. Von jetzt an werden wir nicht viel schneller als die Wanderer sein und uns in 700-Höhenmeter-Schritten weiter ins Thorong-High-Camp auf 4900 Meter vorarbeiten. Wir kämpfen. Werden mit jedem Schritt langsamer. Wir fahren nur noch sporadisch. Immer wieder treffen wir eine Gruppe von Polen, die mit Hardtails und Packtaschen unterwegs ist. Und Helmut, ein Wiener Weltumradler mit Klapprad, Turnschlappen und Baskenmütze als Helmersatz. Aber irgendwie sind wir alle mittlerweile mit uns selbst beschäftigt.
Die Luft wird immer dünner. Die Nächte immer kälter, für die letzten 500 Höhenmeter bis zum Pass benötigen wir vier Stunden. Es ist elendig lang. Der Kopf hämmert, und dieser verdammte Pass kommt nicht. Und kommt nicht. Und kommt nicht. Oben ist es zu windig und zu kalt, um dort zu verharren. Aber Krishna hängt eine Gebetsfahne auf, und wir posieren kurz fürs Foto. Das letzte vor dem Downhill unseres Lebens. Zuerst über Schnee und ein paar gefährlich vereiste Passagen, und dann über traumhaft sandige Trails. Und in Muktinath auf 3800 Metern ein Hotel mit warmer Dusche! „Wollt ihr mal ein Yak aus der Nähe sehen?“ fragt uns Krishna nach dem Frühstück. Wir gehen raus – vor dem Hotel, mitten im Ort, zerren ein paar schmächtige Männer an dem imposanten Tier. Und schlachten es mitten auf dem Weg.
Die Wärme kehrt zurück
Ins Tal gleiten wir zunächst über unglaubliche Trails und später wieder auf der Jeep-Piste. In den Quellen von Tatopani bringt das heiße Wasser die Wärme in den Körper zurück. Andi ruft euphorisch: „Nie wieder frieren!“ Zurück zu Hause wird er uns mailen, dass er manchmal schon nach dem Frühstück in der Badewanne liegt. Und ich wünsche mir nachts, wenn mich ein knatterndes Motorengeräusch aus dem Schlaf reißt, Andis gewaltiges Schnarchen zurück.
Und tagsüber, wenn das Smartphone im E-Mail-Wahnsinn klingelt, da denke ich daran, wie leicht es war runterzukommen. Aber eigentlich immer erinnere ich mich an das Lachen und an die leuchtenden Augen von Krishna. Und vor allem an die Botschaft, die uns der Aufkleber auf der rechten Seite seines Helmes eigentlich unscheinbar, aber dennoch voller Souveränität mit auf den (Heim-) Weg gegeben hat: „But you can’t take my spirit.“
Die Reportage wurde im Magazin MOUNTAINBIKE, Ausgabe 5/2016 und im Sonderheft Abenteuer des Magazins MOUNTAINBIKE, Ausgabe 2018, veröffentlicht.