Eines Ihrer Bücher heißt „Leben am Limit“. Wie definieren Sie Grenzen und das Leben am Limit?

Die Entwicklung im Bergsteigen ist seit 250 Jahren so, dass zur jeweiligen Zeit versucht wurde, die Limits zu verschieben – mit einer einzigen Prämisse: möglich oder unmöglich. Und jede Generation hat versucht, das, was die Väter als unmöglich definiert hatten, möglich zu machen. Dementsprechend sind die Schwierigkeiten gesteigert worden. Allerdings hat jede Zeit ihre eigenen Limits. Wobei das Limit nie erreicht werden kann, man kann sich ihm nur annähern. Der große Fehler zum Beispiel bei der Schwierigkeitsbewertung 1924/1925 des Bergsteigers Willo Welzenbach war, dass er mit seiner Skala den sechsten Grad mathematisch als Limit definiert hat, was zu einer Stagnation geführt hat. Heute sind Limits völlig verschieden besetzt, weil der Alpinismus aufgesplittet worden ist in Tourismus – der größte Teil der Alpinisten besteht mittlerweile aus Touristen – und in Sport. Im reinen Sport ist alles messbar, man kann dabei Limits genau definieren, mit traditionellem Bergsteigen aber hat das nichts zu tun.

Was genau ist ein Grenzgang für Sie?

Grenzgänge erlebe ich, wenn ich weit, weit weg große Schwierigkeiten überwinde, mich Gefahren stelle, die ich erkenne, um ihnen auszuweichen. Sonst bin ich nicht lange am Leben. Das Ganze muss, und das ist der Schlüssel, in absoluter Exposition stattfinden. Ohne Netz und doppelten Boden.

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Die derzeit besten Free-Solo-Kletterer der Welt, wie Alex Honnold, sind das für Sie noch Grenzgänger, oder ist das für Sie Sport, der nur kreuzgefährlich ist, weil die Leute runterfallen und sterben, wenn sie nur einen Fehler machen?

Was Alex Honnold macht, ist Grenzgang in Reinkultur. Im Alpinismus hatten immer diejenigen, die die höchsten Schwierigkeiten der Zeit solo geklettert sind, die größte Anerkennung. Das gilt für Paul Preuß, das gilt für Georg Winkler, der nicht nur ein Frechling, sondern auch ein guter Alpinist war, das gilt für die Huber-Brüder. Sie alle verdienen große Anerkennung, weil sie ihr großes Können auch an großen Bergen gezeigt haben. Sie können dies alles ja nur versuchen, weil sie die Selbstmächtigkeit – das heißt die physische und die psychische Fähigkeit dazu haben. Ihre Selbstmächtigkeit ist so groß, weil sie sich hundertprozentig sicher beim Ausüben ihrer Grenzgänge fühlen. Honnold ist im Moment der Prototyp dessen, was den Grenzgang im Fels darstellt. Er ist kein Höhenbergsteiger und kein Eiskletterer, sondern ein Felskletterer, also ein Spezialist darin, senkrechte glatte Felswände hochzuklettern, und das macht er mit traumwandlerischer Sicherheit. Niemand hat das Recht, ihm einen Vorwurf zu machen. Wenn er runterfällt, hat er nur sich selbst einen Vorwurf zu machen.

Wie erkennt man als Grenzgänger denn Gefahren? Ist das nur Erfahrung, ist es Wissen oder ist es auch so etwas wie der siebte Sinn, den man irgendwann als Extrembergsteiger ausbildet?

Man entwickelt mit der Zeit Instinkte. Aber es ist in erster Linie Erfahrung. Und diese kann man leider nicht so einfach weitergeben. Das heißt, ich muss selbst erfahren, dass die Schneeverhältnisse im Himalaya zum Beispiel anders als in den Alpen sind. Unten ist im Herbst Eis, dann kommt Granulat, das im Monsun entstanden ist, obendrauf harter Firn. Das heißt, der Fuß bricht durch, es ist ungemein anstrengend, aber vor allem ist es wahnsinnig gefährlich bei entsprechender Neigung. Wenn dann die obere Schicht irgendwo reißt, geht diese in Brüche und auf der unteren Schicht geht alles runter. Dann kommt die Lawine so schnell, wie man gar nicht schauen kann. Wenn das jemand zufällig am Rande mitkriegt und aus der Situation heil wieder herauskommt, ist er für alle Zeiten geheilt. Weil er die Wucht sieht und hört. Und so muss jeder alles langsam lernen. Auch mein Sohn, der heute selbst große Wände klettert. Ich kann nicht sagen, ich nehme was aus mir heraus und impfe es ihm ein. Seine Erfahrungen muss er leider selber, ganz alleine, machen.

Reinhold Messner im Interview
„Niemand hat das Recht, ihm einen Vorwurf zu machen. Wenn er runterfällt, hat er nur sich selbst einen Vorwurf zu machen.“ Dan Zoubek

Aber ist es nicht so, dass manche, auch erfahrene, Grenzgänger die Gefahr herausfordern?

Im Grunde alle. Aber eine Generation in den achtziger Jahren, von der nicht mehr viele leben, hat Folgendes getan: Sie sind in große Höhen gegangen, haben große Gefahren gesucht, auch große Schwierigkeiten gefunden, ein extremes Risiko auf sich genommen. Sie sind unter Seracs geklettert. Wenn ich unter einem Serac klettere, weiß ich, der kalbt irgendwann: einmal in der Woche, drei Mal am Tag, drei Mal im Monat, man weiß es nie. Aber wenn er kalbt und ich bin drunter, habe ich keine Chance. Diese Leute aber sind zwei Tage lang unter einem 200 Meter hohen Serac geklettert. Ich hätte das nicht ausgehalten vor Angst. Sie aber haben es getan. Es ist typisch für eine bestimmte Zeit, dass versucht wurde, die Dimensionen dadurch zu sprengen, indem man die Gefahrenseite so weit steigerte, dass sie unkalkulierbar wurde. Wenn ich nicht mehr ausweichen kann, ist Ende! Das ist für mich nicht der Sinn der Sache. Meine Antwort heißt, die Schwierigkeiten muss ich überwinden und steigern können. Auch Gefahren müssen da sein. Ich muss sie aber erkennen, einschätzen können und die Möglichkeit haben, ihnen auszuweichen. Das ist meine Aufgabe.

Es gibt ja aber auch ein paar Kletterer und Alpinisten, die ums Leben gekommen sind, obwohl sie sich in vergleichsweise harmlosen Situationen befanden. Kurt Albert zum Beispiel, vielleicht auch Ueli Steck. Ist man als Grenzgänger am Limit sicherer, weil man dann konzentrierter ist?

Wir Menschen sind Menschen. Wir machen Fehler. Das ist eine Tatsache. Ich bin weit von diesen Sprüchen entfernt wie: „Lieber einmal Löwe als ein Leben lang Schaf.“ Kurt Albert hat nur einmal – auf einem leichten Klettersteig – nicht aufgepasst und ist runtergefallen. Es war wohl ein Fehltritt. Wir erinnern hier im Museum an ihn, weil ich ihn für eine der wichtigsten Figuren des letzten Jahrhunderts im Bergsteigen halte. Er hat mit dem Rotpunkt dem Bergsteigen und Klettern neue Ausdrucksmöglichkeiten gegeben. Wahrscheinlich wäre ihm der Fehler nicht unterlaufen, wenn der Klettersteig volle Aufmerksamkeit von ihm erfordert hätte. Hat er aber nicht. Und dann ist es passiert. Bei Ueli Steck sieht es so aus, dass er Ersatz gesucht hat, nachdem er sein Projekt der Everest-Überschreitung von Westen aufgegeben hatte. Ist er noch mal hinaufgelaufen, um die Schneeverhältnisse zu prüfen, hat er ein Problem mit den Steigeisen gehabt? Das Terrain war zu leicht, für Ueli Steck keine ernste Schwierigkeit, nicht so steil.

Wie wird man als jemand, der sein Leben lang seine Grenzen gesucht hat, so alt wie Sie?

Es war auch Glück. Natürlich kam die Vorsicht dazu, das Können zuletzt. Aber man braucht hin und wieder auch Glück, um als Grenzgänger am Leben zu bleiben.

Wie oft hatten Sie Glück?

Vielleicht fünf, sechs Mal. Wenn man die Qualität, die ein Honnold hat, betrachtet, lebt von den absoluten Spitzenleuten die Hälfte ein bürgerliches Leben zu Ende, die andere Hälfte kommt in den Bergen um. Das heißt, die einen hatten Glück, die anderen Pech. Eine Ungeschicklichkeit reicht. Mein Spaltensturz am Everest zum Beispiel: Wenn mich die Spalte nicht entlassen hätte, weil sie zu breit war, ich wäre wohl bis heute nicht gefunden worden.

Was dachten Sie in so einem Moment?

Beim Sturz überhaupt nichts. Das Umkommen kommt ja erst vor, wenn es wirklich passiert. Es wäre ja niemand da gewesen, der mich hätte finden können. Ich hatte keine Möglichkeit der Verständigung. Im Basislager war ein Übersetzer, eine Hilfe, ein Offizier. Zur Kontrolle. Sie hatten keine Möglichkeit raufzugehen, um mich zu suchen. Die hätten gemeldet, der ist irgendwo verschwunden.

Reinhold Messner im Interview
„Wenn mich die Spalte nicht entlassen hätte, weil sie zu breit war, ich wäre wohl bis heute nicht gefunden worden.“ Dan Zoubek

Sie sagen aber, es war auch Vorsicht und Können, dass Sie überlebt haben. Ist der Satz „Das Können ist des Dürfens Maß“, den der legendäre Alpinist Paul Preuß geprägt hat, die Überschrift über Ihrem Leben und all Ihren Grenzgängen?

Es ist der klarste Satz, um zu sagen, was man beim Bergsteigen darf und was man nicht darf. Ganz einfach: „Das Können ist des Dürfens Maß.“ Kürzer kann man es nicht ausdrücken. Preuß war nicht nur ein guter Bergsteiger oder Kletterer, sondern eine Ausnahmeerscheinung, ein gescheiter Mann. Er forderte maximale Exposition bei maximaler innerer Sicherheit. So war Preuß auch unterwegs. Seine Antwort auf die Frage, warum Kletterer eine Sicherung brauchen, war mutig, ja revolutionär: weil sie’s nicht können. Weil sie nicht sicher sind. Oder: Weil sie etwas machen, was sie nicht machen sollten, weil es für sie zu viel ist. „Das Können ist des Dürfens Maß“ ist eine ganz einfache, bis ins Letzte durchdachte philosophische Aussage: Es gibt für alle Kletterfähigkeiten ein Limit, das wir einhalten müssen, um den Grenzgang für alle Zukunft als Möglichkeit zu erhalten.

Heißt das, dass ich alles, was ich kann, auch darf?

Nicht an meinem Limit. Bei der Solo-Kletterei alles, was ich kann, auch zu tun, ist dumm. Ich werde nicht lange leben dabei. Ein Solo-Kletterer wird mindestens einen Grad unter dem klettern, was er beherrscht, zumal er auch noch mit anderen Faktoren zu kämpfen hat. Jeder, der schwer solo geklettert ist, weiß: Die Schwierigkeit besteht beim Einstieg. Vor dem Losgehen. Nicht beim Klettern selber. Warum? Wegen unserer Psyche!

Ist der erste Meter, das Abheben vom Boden, wirklich das Schwierigste?

Ja, genau. Es sind oft die ersten Meter. Beim Warten, auch wenn ich vor der Tour nicht schlafen kann, wachsen die Ängste. Wenn ich handle, schrumpfen die Ängste. Erst wenn ich keine Ängste mehr habe, wenn ich sie alle abgelegt habe, bin ich frei. Dann erst bin ich vor allem beim Solo-Klettern im Flow.

Wenn Sie sagen, dass Grenzgänger auch Glück brauchen: Wie ging denn Ihre Familie mit der Angst um, dass Sie nicht zurückkommen hätten können, wenn nur mal das Glück gefehlt hätte?

In erster Linie will ich fragen, wie die Mütter damit umgehen. Das ist unser Hauptproblem. In diesem Zusammenhang sind Grenzgänge eine derart egoistische Angelegenheit, dass sie im Grunde nicht vertretbar sind. Es ist nicht zu verantworten, was wir tun, nicht zu verteidigen. Es ist den Angehörigen gegenüber generell eine Zumutung. Ganz einfach, fertig! Ich habe es trotzdem gemacht oder mache es zum Teil in anderen Feldern noch heute. Andere haben es gemacht. Jeder, der je wirklich am Limit des Machbaren unterwegs war, weiß: Der Grenzgang ist der Versuch, im schlimmsten Habitat, das es auf dieser Erde gibt, also in der menschenfeindlichsten Umgebung, zurechtzukommen. Das ist gefährlich. Ob das nun der Südpol ist oder der Mount Everest auf neuer Route oder eine Wüste – der Grenzgang ist immer etwas sehr Ernstes, kein Spaß.

Wie ist Ihre Mutter mit ihrer Angst umgegangen? 

Meine Mutter hat das, was wir getan haben, zwar nicht forciert, aber uns auch nichts ausgeredet. Wir waren eine Familie mit neun Kindern, und es sind alle geklettert, zwei von uns sind später am Berg umgekommen. Einer durch Blitzschlag, mein Bruder Günther in einer Lawine. Meine Mutter hat uns ziehen lassen. Wir sind als Halbwüchsige schon um vier Uhr früh los, um bei uns in den Dolomiten zum Klettern zu gehen. Mit Rucksack, Seil, Haken. Unsere Mutter hat uns Frühstück gemacht und nie ein Wort über ihre Sorgen verloren. Sie hätte ja sagen können: „Buben, ich habe fürchterlich Angst.“ Aber sie hat ihre Ängste für sich behalten, weil sie wusste: Wenn wir nicht den Freiraum haben, uns auszudrücken, unsere Fähigkeiten auszuspielen, wenigstens in diesem Bereich – sonst wurde man ja überall eingeengt in den 50er und 60er Jahren –, wir wären nie zu selbstbestimmten Menschen geworden. Wir wären unterwürfig geblieben. Wir sind es zum Glück alle nicht geblieben. Alle haben das Tal verlassen, alle als Akademiker, außer ich. Ich zog als Letzter fort, mit vierzig.

Wann haben Sie denn gemerkt, dass Sie Ihre Grenzen anders suchen als die meisten Menschen?

Ich bin ja gar nicht anders. Ich bin ein Kind meiner Zeit. Ich bin allerdings in sehr jungen Jahren zum Klettern gekommen. Ich war mit 12, 13 Jahren schon ein selbständiger Kletterer. Wir wussten gar nicht, dass es eine Szene gibt und eine Historie, dass Hillary auf den Everest gestiegen ist. Mein Vater hat mich als Kind begeistert fürs Klettern, ist mit mir losgegangen, hat mich früh führen lassen. Mit 12 durfte ich vorausklettern, was das Beste ist, was ein junger Mensch haben kann. Ich bin natürlich vorsichtig geklettert, später aber wollte mein Vater mich einbremsen. Aber da war es schon zu spät, weil ich bereits Begeisterung, ja Leidenschaft fürs Bergsteigen entwickelt hatte. Als Günther und ich – wir waren die extremen Kletterer unter unseren Geschwistern – 17, 18 Jahre alt waren, kamen wir mit wirklich guten Kletterern zusammen, mit denen wir dann viel unterwegs waren. Von denen haben wir gelernt – vor allem das Absichern – und sind von Anfang an große Wände geklettert, haben das Abenteuer gesucht. Was ich später dann als Bezeichnung abgelehnt habe, weil alle Reiseveranstalter heute ihre sogenannten Abenteuer anbieten. Ich war wohl der Erste, der für meinen Alpinismus den Ausdruck Grenzgang geprägt hat. Ich habe in dieser Zeit auch angefangen, die alpine Literatur zu hinterfragen, mich mit der Philosophie dazu zu befassen. Für mich ist das Bergsteigen heute eine kulturelle Auseinandersetzung zwischen Menschennatur und Bergnatur. Eine kulturelle Angelegenheit also! Keine andere Tätigkeit sportlicher Natur hat so viel Philosophie, so viel Literatur – auch gute Literatur, nicht nur Ghostwriter-Klischees – hervorgebracht. Dazu Malerei, Musik, Storytelling.

„Es ist nicht zu verantworten, was wir tun, nicht zu verteidigen. Es ist den Angehörigen gegenüber generell eine Zumutung.“

Aber trotzdem hätten Sie ja auch etwas weniger Extremes machen können. Im Villnößtal gab es bestimmt, als sie jung waren, viele, die keine Kletterer wurden.

Die allermeisten waren keine Kletterer. Nur zwei Bauernsöhne sind mit uns geklettert. Später erst kamen andere dazu. Da war ich schon im Himalaya.

Wurden Sie von den anderen im Tal als verrückt wahrgenommen?

Es wäre ja geradezu schlimm, wenn es anders wäre. Als Kinder wurden wir jedoch nicht als verrückt wahrgenommen. Wir waren zwar nur wenige im Tal, die kletterten, mein Vater aber war schon in der Vorkriegszeit zum Klettern gegangen. Als wir dann extrem bergstiegen – und vor allem mit dem Unfall am Nanga Parbat –, wurde allen im Tal klar, dass ein Achttausender eine andere Dimension ist als die Geislerspitzen. Wir waren die ersten Villnösser, die lokal die großen Nordwände geklettert sind. Das gab’s früher ja nicht. Man wusste damals gar nicht, wann wer da hochgeklettert war. Dass mich Leute dann als verrückt wahrnahmen, berührte mich nicht. Es war ihr gutes Recht, es so zu verstehen. Wenn sie es nicht so gesehen hätten, wäre ich kein Grenzgänger gewesen. Kein vernünftiger Mensch tut das, was wir tun, was ich vierzig Jahre lang tat.

War es auch eine gewisse Liebe zu den Bergen, die Sie zum Klettern gebracht hat?

„Die Liebe zum Berg“ – diesen Ausdruck kriegen Sie nicht aus meinem Mund. Man liebt die Berge nicht. Man liebt seine Kinder, seine Frau, die Eltern, wen auch immer. Aber zu den Bergen gibt es kein Liebesverhältnis. Es ist eine Ausrede, wie die Bergsucht auch. Ich brauche keine Rechtfertigung für mein Tun, die Begeisterung reicht.

Wenn es kein Liebesverhältnis ist, was ist es dann? 

Ich habe ein ganz anderes Verhältnis zum Berg als Liebe. Ein Berg ist erhaben, groß, eine Herausforderung. Das, was wir machen, ist eine ziemlich absurde Tätigkeit. Ist es nicht völlig absurd, dort hinzugehen, wo man umkommen könnte, um nicht umzukommen? Die Kunst dabei aber ist, nicht umzukommen! Diese Kunst, nicht umzukommen, wiederum ist nur eine Kunst, weil man dabei umkommen könnte. Es ist doch ganz einfach: Sonst wäre es kein Grenzgang. Der Grenzgang ist definiert durch die Möglichkeit umzukommen, in die ich mich gegen meinen Selbsterhaltungstrieb wage. Unser Selbsterhaltungstrieb aber will das nicht. Dieser reagiert also mit Angst! Wenn ich es schaffe, mit Hilfe meiner Selbstmächtigkeit gegen diese Empfindungen anzugehen, mich zu überwinden oder die Angst ins Gleichgewicht mit meinem Mut zu bringen, gehe ich los. Wenn ich zurückkomme, zuletzt nicht dabei umkomme, habe ich einen Grenzgang hinter mir. Und erlebe das als Wiedergeburt. Das heißt Energierückfluss, Lebensfreude, neue Ideen, habe also Lust, noch eins draufzusetzen. Vielleicht sogar ein bisschen mehr.

Immer noch eins draufzusetzen heißt ja auch, den Angehörigen gegenüber noch verantwortungsloser zu sein. Gleichzeitig muss man sehr verantwortungsvoll gegenüber sich selber und denen, die mit einem unterwegs sind, sein, um zu überleben. Wie verträgt sich Verantwortung mit dem Egoismus eines Grenzgängers?

Wir alle sind auch Egoisten, nicht nur wir Grenzgänger. Und jeder, der etwas anderes behauptet, hat von der Menschennatur wenig Ahnung. Die Spezies Mensch wäre nicht mehr auf der Erde, wenn sie nicht egoistische Gene hätte. Der Mensch aber ist genauso Altruist. Im kleinen Kreis vor allem. Weil wir nur gemeinsam durchkommen. Wir sind darauf angelegt, von wem auch immer – das hat nichts mit unserer göttlichen Dimension zu tun –, dass unsere Gattung überlebt. Unsere stärksten Instinkte sind der Selbsterhaltungstrieb und der Sexualtrieb. Es gäbe sonst keine weiteren Generationen. Wer auf Expedition geht, handelt meist verantwortungsvoll. Er ist für sich selbst verantwortlich, wie auch für diejenigen, die mit dabei sind. Unsere Menschennatur ist so angelegt, dass wir – wie automatisch – auch Verantwortung tragen für die anderen im Team. Ob wir wollen oder nicht. Jeder wird versuchen, seinen Partner am Leben zu halten, weil er auch die beste Stütze für das eigene Überleben ist. Altruismus und Egoismus sind oft wie parallel geschaltet. Wir vertrauen uns deshalb auch gegenseitig. Jemand gibt mir Vertrauen, auf dass ich auch Vertrauen schenken kann. Und die vielen Schwätzer, die behaupten, dass wir Bergsteiger andere ohne Not liegenlassen würden, wissen nichts von der Menschennatur. In einem urbanen Habitat, wo die Moralisten meist leben, liegen sie – mit einem Blick auf sich selbst – richtig.

Sie spielen auf den Tod Ihres Bruders Günther während Ihrer gemeinsamen Nanga-Parbat- Expedition 1970 an. Wie war es, nach Hause zu kommen und das dann der Mutter erklären zu müssen? 

Das war schwierig, weil eine Mutter am meisten darunter leidet. Ist ja auch logisch. Ich litt am wenigsten darunter, weil ich das Unglück erlebt hatte. Ich wusste ja, wie es passiert ist. Für alle anderen war das unendlich weit weg. Deswegen war ja auch der Fund der Leiche so wichtig, damit die Familie – obwohl die Eltern zu dieser Zeit nicht mehr lebten – die Möglichkeit hatte, Abschied zu nehmen. Zu wissen, es gibt einen Grabstein, einen Gedenkstein, so ist es passiert. Unsere Reise zum Nanga Parbat 2006 war eine ganz normale bürgerliche Art, Abschied zu nehmen von einem Verstorbenen. Das war aber erst 35 Jahre später möglich, weil der Gletscher den Körper so lange für sich behalten hatte. Die Lügen der damaligen Expeditionsteilnehmer Hans Saler und Max von Kienlin in diesem Zusammenhang bleiben unverzeihlich, die Haltung des Deutschen Alpenvereins ein Skandal.

Wie macht man weiter nach solchen Situationen? Warum haben Sie nicht aufgehört nach dem Tod Ihres Bruders? Was hat Sie angetrieben, immer weiter Ihre Grenzen zu suchen?

Ich hatte nach dem Nanga Parbat die Möglichkeit aufzuhören und mein Studium wieder aufzunehmen. Das haben alle von mir erwartet: die Verwandten, die Brüder, Freunde. Vor allem die Eltern haben mich gedrängt, ich möge mein Studium fertigmachen. Die allermeisten Bergsteiger haben ohnehin prophezeit, ich könnte wegen meiner Zehenamputationen nicht mehr klettern. Ich konnte auch nicht mehr so gut klettern wie vorher, habe mich dann aber – nach einer Zeit der Unsicherheit, Trauer – entschieden, etwas Neues zu machen. Ich hatte ja gerade die höchste Wand der Welt durchstiegen. Warum sollte ich, nachdem ich den Beweis vor mir selbst hatte, geschafft zu haben, was die besten deutschen Bergsteiger vor uns nicht geschafft hatten, aufhören? Wir hatten als Erste die Rupalwand durchstiegen, niemand anderes. Sie können heute sagen, was Sie wollen. Wir, Günther und ich, waren voraus, wir haben den Weg gefunden, wir haben den Weg größtenteils vorbereitet, wir haben die Logistik bestimmt. Dass wir dann am Ende hintereinander losgestiegen sind, ist allein unsere Verantwortung, darüber braucht sich niemand anderer den Kopf zu zerbrechen. Wir sind dann in eine Notlage gekommen und haben Entscheidungen getroffen, die ganz alleine unsere waren. Es geht im Grunde niemand anderen etwas an. Der Unfall ist passiert, er ist nicht rückgängig zu machen, dafür trage ich die ganze Verantwortung. Es ist eine rein subjektive Angelegenheit, die kann mir auch niemand abnehmen. Umgekehrt aber ist niemand anderer verpflichtet, sich dreißig Jahre später damit wichtig zu tun.

Reinhold Messner im Interview
„Ist es nicht völlig absurd, dort hinzugehen, wo man umkommen könnte, um nicht umzukommen?“ Dan Zoubek

Das heißt, der Unfall war ein Wendepunkt in Ihrem Leben. Hat er vielleicht auch dazu beigetragen, dass Sie bis heute überlebt haben?

Ich hatte bei all dem Unglück mit dem Tod meines Bruders das Glück, im richtigen Moment aus meiner Kletterzeit rausgerissen worden zu sein. Zuvor war ich ein Kletterer gewesen, kein Höhenbergsteiger. Ich hatte 1969 die schwierigsten Touren der Alpen solo geklettert. Ich hatte danach die Fähigkeit dazu nicht mehr. Dann bin ich also umgestiegen: in eine andere Welt eingetaucht. Zuerst musste ich alles erst einmal lernen. Ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich als Höhenbergsteiger meinen Stil und meine Art gefunden hatte. Als ich dann, was ich nie geplant hatte, alle 14 Achttausender besteigen konnte, war mir – im Grunde schon vor den letzten vier – klar, dass ich spätestens dann aufhöre, wenn ich auf allen oben war. Dann bin ich wieder umgestiegen und später nochmals und wieder umgestiegen. Das heißt, immer wenn ich in einem Spiel das Limit meiner Möglichkeiten erreicht hatte – nicht das allgemeine Limit, obwohl dieses mit meinem ab und zu parallel lief –, dann habe ich etwas Neues gewagt. Immer etwas, was mich neugierig gemacht hat, was mich angeregt hat, besser zu werden. Mit zunehmendem Alter bin ich am Ende umgestiegen auf kulturelle Lebensäußerungen, nicht mehr alleine auf psychophysische Grenzgänge.

Warum sind Sie, nachdem Sie dann aufs Höhenbergsteigen umgestiegen sind, weiterhin teilweise zu Alleingängen aufgebrochen?

Der Alleingang ist eine eigene Welt. Wir sind nicht für den Alleingang gemacht. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Niemand erträgt Alleinsein ohne Ende, vielleicht ein paar Mönche. Wir wollen Emotionen teilen, weshalb Solo-Grenzgänge eine ganz besondere Herausforderung bleiben. Wenn ich einen Partner habe, reicht es schon zu wissen, dass der andere da ist. Der andere, der vielleicht auch Zweifel hat, diese äußert oder sie nur mit einem Blick zeigt, allein das ist schon eine Stütze. Es ist emotional viel, viel schwieriger, einen Achttausender alleine zu besteigen, als es in Seilschaft zu wagen. Weil wir für den Alleingang nicht gemacht sind. Das gilt auch für Klettereien, die länger als einen Tag dauern. Ich habe lange gebraucht, Alleingänge in den Alpen über zwei Tage durchzustehen. Schließlich habe ich einen Alleingang an der Marmolada-Südwand geschafft, bei dem ich biwakiert habe. Das viel größere Problem als der Tag am Berg ist nämlich die Nacht dort oben, weil man Zeit zum Nachdenken hat. Ich brauchte mehrere Anläufe, um einen Achttausender alleine besteigen zu können. Und als ich es 1978 geschafft hatte, wusste ich, ich kann auch die hohen Achttausender allein klettern – und ohne Sauerstoffmaske. Ich war wohl der Erste, der ernsthaft daran gedacht hat, Achttausender alleine zu besteigen.

Und heute ist es fast schon normal, den Everest zu besteigen. Was hat sich in all den Jahren geändert? 

Die technischen Möglichkeiten, dem Limit zu begegnen, sind im Laufe der Jahre immer besser geworden. Und damit haben sich Grenzen verschoben. 1913 war Paul Preuß im Felsklettern, mit den Mitteln, die er damals hatte, an der Grenze seiner Möglichkeiten angelangt. Nach dem Krieg hat sich dann das Hakenklettern entwickelt. Aber erst in den 50er Jahren ist das Klettern zum technischen Klettern geworden, der Expeditionsstil entwickelt worden. Auch weil die allgemeine Haltung damals war: Es ist kein Unterschied, ob ich mich technisch, also mit Hilfsmitteln, fortbewege oder am Fels klettere. Die Schuhe, das Wichtigste für Kletterer, die ganze Ausrüstung und die Möglichkeiten der Absicherung wurden immer besser. Und dann kam – mehr oder weniger stillschweigend – die Aufsplittung des Alpinismus in Sport und Tourismus. An den 8000ern oder den ganz großen berühmten Bergen weltweit hat es ja lange Zeit niemand gemerkt. Ich war der Einzige, der gepredigt hat, dass da etwas ganz anderes entsteht: Es ist Tourismus, was da betrieben wird. Wenn die Sekretärin des CEO auf dem Everest war, muss er auch auf den Everest! „Jeder kommt da rauf“, versprechen die Organisatoren. Weil man die Reise heute kaufen kann: alles inklusive.

Belächeln Sie als Alpinist so etwas?

Nein, ich benenne es als das, was es ist.

Aber wer sich das kauft, muss ja auch an seine persönlichen Grenzen gehen und sich entsprechend darauf vorbereiten.

Nein, das muss man heute nicht unbedingt. Sie brauchen daheim nur im Unterdruckzelt zu schlafen, fliegen nach Nepal, weiter ins Basislager. Dann fliegen Sie kurz ins Lager 2, um sich weiter zu akklimatisieren. Zwischendurch fliegen Sie im Heli nach Kathmandu – noch einmal schön zum Abendessen –, dann zurück ins Basislager und auf geht’s zum Gipfel, wohin die Piste – von Sherpas angelegt – inzwischen steht. Alles gut organisiert. Wenn Sie im Lager Sauna wollen, TV, Wetterbericht via Satellit – alles kein Problem. Ich will das nicht lächerlich machen. Aber es ist Tourismus. Der Tourist braucht eine Infrastruktur, Hilfe, Absicherung. In den Camps müssen Köche sein, Ärzte und die entsprechenden Medikamente. Natürlich ist es so immer noch nicht sicher, dass man es schafft. Es ist auch anstrengend und ein Teil der Gefahr bleibt, was ja mit der Umgebung zusammenhängt. Aber es hat mit selbstverantwortetem Bergsteigen nichts zu tun. Es ist ein Unterschied, ob ich auf eine Klettertour in den Dolomiten mit Bergführer gehe, der sagt: „Deine Knoten sind in Ordnung, ich kletter vor, du gehst nach.“ Wenn du aber alleine losziehst, weißt du nicht, wohin du gehst. Du musst deinen Weg erst suchen. Und du weißt erst, wenn du dich verstiegen hast, was Verantwortung ist, schaust, wie du wieder runterkommst. Eine ganz andere Situation also als auf der Piste am Everest: Die Auseinandersetzung mit einer archaischen Welt, ohne Gesetze, ist Grenzgang. Da oben gibt es für ein selbstverantwortetes Team keine Gesetze. Wenn man selbständig unterwegs ist, regiert die Natur. Der Alpinist geht deshalb dahin, wo keine Infrastruktur ist. Und er ist alleine für sich verantwortlich. Oder teilt sich die Verantwortung mit den Leuten, die mit ihm gehen. Wenn ich eine Infrastruktur in Anspruch nehme, dann gibt es einen Gesetzgeber, der außerhalb steht, der weiß, wer die Infrastruktur eingerichtet hat. Beim Alpinismus gibt es nur die Entscheidung der Menschen, die unterwegs sind. Wie sie was miteinander machen, ist allein ihre Sache. Alles andere ist Tourismus! Großartig, dass Agenturen heute am Everest Tourismus betreiben können, aber mit Grenzgang hat dieser null zu tun.

Reinhold Messner im Interview
„Wenn du aber alleine losziehst, weißt du nicht, wohin du gehst. Du musst deinen Weg erst suchen.“ Dan Zoubek

Aber trotzdem können doch nicht nur Bergsteiger, sondern auch Touristen an ihre Grenzen kommen. 

Subjektiv können alle ihre Grenzen definieren. Das Limit aber des heutig Machbaren ist festgelegt durch die Summe aller Tätigkeiten in diesem Bereich.

Besteht nicht gerade bei Touristen die Gefahr, dass sie ihre Grenzen eben nicht kennen, dass Leute im Gefühl der Sicherheit etwas machen, was sie eigentlich gar nicht können?

Leider ist das so. Daran sind wohl die Veranstalter schuld, weil sie ihren Klienten einreden, sie könnten es. Wer aber eine Infrastruktur baut, trägt auch die Verantwortung dafür, was auf dieser Infrastruktur passiert. Aber die gewieften Verkäufer, die 8000er von den Sherpas präparieren lassen und die Leute dann hochschicken auf diesen Pisten, leben ja davon, dass das Ganze ein Zwischenbereich in der Jurisprudenz bleibt. Wenn was passiert, sagen sie: Du hast ja unterschrieben, dass du selbst verantwortlich bist. Das ist absurd: Erst wird der Everest kleingeredet, indem man Highways bis zum Gipfel baut, dann, wenn etwas passiert, sagt man: „Selbst schuld.“

Man hat ja aber nicht nur im Tourismus, sondern auch im Extremsport den Eindruck, dass Menschen immer wildere Sachen machen müssen, den Nervenkitzel suchen. Hat das damit zu tun, dass die Sponsoren oder die Medien verlangen, dass die Athleten jedes Jahr immer noch etwas Spektakuläreres machen?

Das müssen Sie diejenigen fragen, die so was machen. Aber ein Kletterer, der heute Weltniveau hat, hat mehrere Sponsoren und muss sich nicht diktieren lassen, was er macht. Die Kletterer selbst haben das Sagen. In den 60er Jahren sind mehr traditionelle Alpinisten umgekommen als heute. Jetzt passieren die meisten Unfälle auf Wanderwegen, Klettersteigen. Gegenüber von Schloss Juval wurde ein Klettersteig gebaut, aus dem sie öfter jemanden rausfliegen. Touristen am Berg denken, alles sei einfach, nichts kann passieren, weil ja jeder Meter präpariert ist. Auch, dass sie am Abend vom Hubschrauber geholt werden, wenn sie nicht rechtzeitig runterkommen. Bei den wirklichen Alpinisten, glaube ich wenigstens, ist die Situation heute nicht anders als früher. Wir sind verantwortlich, gut vorbereitet, wissen, was wir tun. Zumal in großer Höhe, weil dort weder Erfahrung noch Können in den letzten 40 Jahren nennenswert gewachsen ist.

Es gibt ja aber trotzdem den Druck auf Extremsportler, die sich permanent beweisen müssen. Auch wenn man davon ausgeht, dass kein aktiver Druck auf die Athleten ausgeübt wird, ist der subtil doch trotzdem immer vorhanden. Alles muss doch immer spektakulärer werden. Führt so was nicht dazu, dass, so wie im Schweizer Lauterbrunnental, mittlerweile mehr als 40 Basejumper in den Tod gesprungen sind?

Der Mensch kann nicht fliegen, ganz einfach. Wenn es trotzdem jemand gerne tut, soll er es tun, mir ist es nicht wichtig. Es ist ein Kick, das hat mit dem, was ich Grenzgänge nenne, wieder nichts zu tun. Ich kontrolliere meine Sache zentimeterweise, wenn ich klettere oder gehe.

Ist in solchen Extremsportarten die Verantwortungslosigkeit den Angehörigen gegenüber noch größer. Geht das zu weit?

Was ist zu weit? Das muss jeder Mensch selbst mit sich und seinen Leuten ausmachen. Ich bin generell der Meinung, dass man zu diesen unnützen Tätigkeiten – es ist ja nicht nützlich, was wir tun – kein Urteil aussprechen kann. Was ist richtig, was falsch? Ich will nur erzählen, was die Kunst dabei ist.

Reinhold Messner im Interview
„Wenn schon, bin ich meine Heimat und mein Taschentuch ist meine Fahne.“ Dan Zoubek

Was ist denn der Sinn von unnützen Tätigkeiten? 

Wir Menschen geben Sinn. Ich behaupte, der Sinn fällt nicht vom Himmel. Damit widerspreche ich den meisten Religionen. Weil diese vorgeben, sie hätten den Sinn des Lebens. Im Christentum: Der Sinn des Lebens ist es, sich auf dieser Erde christlich zu verhalten, um in den Himmel zu kommen. Ein Betrug, dem Nietzsche widerspricht. Ist es Betrug am Leben? Der Sinn fällt nicht vom Himmel, aber ich habe die Freiheit und die Möglichkeit, meinem Leben Sinn einzuhauchen. Wir selbst sind die Sinnstifter, es ist unser gutes Recht, in unser Tun, in eine Person, eine Sache Sinn hineinzulegen. Genau das tue ich. Ob ich dabei einer nützlichen oder einer unnützen Tätigkeit nachgehe, spielt keine Rolle. Aber ein guter Sinnstifter wird im Leben weiterkommen als jemand, dem das nicht gelingen will.

Wegen Ihrer Haltung unter anderem zu Religionen haben Sie auch viel Gegenwind bekommen. Hat auch eine gewisse mentale Enge in der Heimat Ihres Tals dazu geführt, dass es Sie immer in die Weite der Welt hinausgezogen hat?

Ja, stimmt. Es ist heute noch so. Glauben Sie, die Südtiroler Täler sind offener geworden? Die sind immer noch eng.

Aber das hat ja Südtirol nicht exklusiv.

Das ist richtig. Wenn man sich den Wahlkampf im Herbst 2017 in Österreich angeschaut hat, konnte man dort die Sprache der 30er Jahre hören. Was ist das Gegenteil von Heimatliebe? Heimatlosigkeit! Es ist das Schlimmste, was Kinder erleben müssen. Man muss sich ein Kind vorstellen, das in Syrien die Eltern verloren hat, alles verloren hat und das sich irgendwo durchschlagen muss, Hilfe braucht. Im Wahlkampf in Österreich fehlte mir die Empathie dazu, wenn gesagt wurde: „Hier haben nur diejenigen Platz, die hier geboren und verwurzelt sind.“

Mussten Sie als Südtiroler in Südtirol Grenzen in den Köpfen sprengen?

Als ich das Heroische im Bergsteigen kritisierte, brach eine Aversion gegen mich aus, durch die ich erst verstanden habe, dass immer noch kolonialistische Vorstellungen existieren. Das hat dazu geführt, dass ich mich intensiv mit dem Alpinismus in den 30er Jahren auseinandergesetzt habe. Ich bin gerade dabei aufzuarbeiten, wie stark der Faschismus im Deutschen Alpenverein bestimmend war. In meiner Kindheit war dieser Geist zumindest in den Südtiroler Dörfern noch zu finden. Es war 1978 nach dem Everest ohne Maske: Ich ging auf die Bühne, dankte für das große Fest. Der Vorredner, ein Politiker, hatte gesagt, Messner hat die Südtiroler Fahne auf den Everest getragen, er hat den höchsten Berg der Welt für Südtirol bestiegen. Ich aber hatte es nicht getan. Ich habe den Mount Everest für mich bestiegen. Und ich hatte keine Fahne gehisst. Und ich sagte – nur im Abspann –, „wenn schon“ – mit einer gewissen Schärfe –, „bin ich meine eigene Heimat und mein Taschentuch ist meine Fahne“. Die Folgen waren verheerend. Ich wurde zum „Heimatverräter“.

Es scheint ja gesellschaftlich so zu sein, dass Weltoffenheit derzeit wieder geschlossenen Grenzen weichen muss. Wie beobachten Sie die Situation in Europa, das ja eigentlich als großartiger Grundgedanke von immer mehr Menschen, Politikern, Staaten mit Füßen getreten wird?

Es gibt in letzter Zeit auch wieder positive Tendenzen. In Frankreich hat Le Pen verloren, in Holland Wilders, die Populisten haben in Ungarn und Polen erste Probleme. Europa hat in den letzten 20 Jahren leider nicht viel dafür getan, um von den Menschen verstanden zu werden. Ich bin ein hoffnungsfroher Mensch. Was zum Beispiel Macron in Frankreich betrifft. Oder Merkel, die jetzt wohl auch noch einige Zeit regieren wird. Beide können zusammen einiges auf die Beine stellen. Ich finde es zum Beispiel beeindruckend von Angela Merkel, dass sie in Deutschland nicht auf die AfD reagiert hat, indem sie nach rechts rückte, sondern weiter nach links. Die Österreicher haben es in die andere Richtung versucht. Im Wahlkampf zumindest. Was sie jetzt tun, müssen wir schauen. Der Grenzgang wurde leider immer wieder, politisch gesehen, rechts vereinnahmt. Obwohl er mit Politik grundsätzlich nichts zu tun hat. Aber dessen heroische Komponente wurde immer benutzt: von den Nationalsozialisten, von den Mussolini-Faschisten, vom Stalin-Faschismus.

Sie haben später in Ihrer Karriere buchstäblich auch das Weite gesucht, haben Grönland, Antarktis und die Wüste Gobi durchquert. Was haben Sie dabei anders empfunden als beim Klettern oder Bergsteigen? 

Das waren ebenfalls Grenzgänge, wenn auch anderer Art. Ich war der Erste, der Grönland der Länge nach ohne jede Unterstützung aus der Luft durchquert hat. Auch den Südpol. Am Nordpol sind wir gescheitert – aber auch das gehört zu meinem Leben als Grenzgänger. Der Grenzgang in der Horizontalen hat eine andere Dimension als in der Vertikalen. Es ist mehr Exposition, mehr Ausgesetztsein dabei. Und mehr Zeit, obwohl sich das Zeitgefühl irgendwann auflöst. Auch beim Klettern verliert die Zeit an Bedeutung. Zeit gibt es dann nicht mehr. Am Ende weiß man gar nicht mehr, wie lange man geklettert ist. In der Weite löst sich Zeit auch auf. Ob heute Dienstag oder Donnerstag ist? Man weiß es nicht mehr. Oktober oder November? Man weiß es nicht. Damals war vor allem die Navigation ein Problem, weil wir anfangs keine GPS-Geräte hatten. Aber es war der richtige Mann dabei, Arved Fuchs, ein gelernter Navigator. Wenn das jemand nicht sauber macht, bist du irgendwann am Südpol vorbeigelaufen, ohne es zu merken. Diese Expedition war anstrengend, aber nicht so konzentriert anstrengend wie eine Achttausenderbesteigung am Gipfeltag.

Reinhold Messner im Interview
„Der Berg ist ursprünglich ja auch nur ein Hindernis. Und der Mensch hat gelernt, dieses Hindernis zu überwinden.“ Dan Zoubek

Sie sind jetzt 73 Jahre alt. Wo gehen Sie heute noch an Ihre Grenzen?

Heute ist meine Grenze bei einer langen Tour im vierten, fünften Grad. Klettereien sind nicht mehr meine primären Ziele. Ich gehe klettern, gehe mit meiner Kleinen Klettersteige. Ich gehe im Wald spazieren, weil ich gerne gehe. Mein Fokus liegt inzwischen beim Filmemachen. Ich werde in den nächsten Jahren ein paar Filme machen, zwei habe ich schon hinter mir. Das sind Grenzgänge anderer Art, es geht etwa darum, ob ich einen Co-Produzenten finde. Ich produziere nicht selber, möchte es aber versuchen, nicht nur Regie führen. Wie man ein Thema in die Filmsprache umsetzen kann, ist meine Frage. Ich bin Storyteller. Auch die Grenzgänger, wenn sie – sagen wir ruhig bürgerlich – überleben wollen, müssen lernen, Geschichten zu erzählen. Die Geschichten sind nie die eigenen Geschichten alleine, sondern der Überblick, das Ganze. Das gute Erzählen geht leider immer mehr verloren. Zu meiner Zeit gab es mehr Bergsteiger, die ein Allgemeinwissen über die Berge hatten. Wenn ich heute die alpinen Magazine anschaue, finde ich meist nur noch Fremdenverkehrswerbung. Punkt A oder B. Eine bestimmte Hütte, ein Klettersteig, ein Klettergebiet für eine bestimmte Klientel. Das ist alles legitim, aber es hat nichts mehr mit der Auseinandersetzung zu tun, die ich Alpinismus nenne. Was ist das eigentlich? Was tun wir da? Die wirklich guten Kletterer wie Alex Honnold haben ihren Überblick. Auch wenn sie auf die Bühne gehen und sich ausliefern. Das Museum hier in Firmian, eines meiner sechs Messner-Mountain-Museen, mache ich nicht mehr, es wird jetzt von meiner Tochter Magdalena verwaltet und verjüngt. Dafür hat jetzt sie die Verantwortung. Aber auch dieser Weg war ein Grenzgang, riskant, wirtschaftlich sehr riskant. Am Ende haben meine Gegner, von denen es mehr gab als Befürworter, nachgegeben und damit gerechnet, dass ich pleite gehe und damit erledigt bin. Dieses Objekt hat mich sehr viele graue Haare gekostet, weil es viel Widerstand gab. Ich musste dagegen lange ankämpfen.

Hilft da die Erfahrung aus dem Alpinismus, zu wissen, ich kann alles schaffen?

Ich kann nicht alles schaffen. Aber ich konnte mit Ausdauer, mit der richtigen Vorgehensweise mehr oder weniger alle Hindernisse überwinden. Der Berg ist ursprünglich ja auch nur ein Hindernis. Und der Mensch hat gelernt, dieses Hindernis zu überwinden. Hannibal etwa mit seinen Elefanten. Mit der Zeit haben wir uns selbst die Hindernisse erfunden. Im Kopf entstehen lassen. Die heutigen Hindernisse, die heutigen Grenzgänge entstehen also in unseren Köpfen. Dann erst werden sie ausgeführt. Wir könnten mittlerweile ja auf jeden Berg fliegen.

Sind Sie denn nach all Ihren sportlichen Alleingängen manchmal alleine? Können Sie alleine sein? Sind Sie gerne alleine? Und können Sie auch mal die Beine hochlegen?

Nein, die Beine hochlegen – ich muss es nicht. Früher oder später werde ich gezwungen sein, weniger zu machen. Vor allem was Projekte betrifft, die über die Filmarbeit hinausgehen. Ich bin gerne alleine, kann gut allein sein. Ich brauche es manchmal sogar. Um meine Projekte reifen zu lassen, die immer noch aus solitären Ideen entstehen, die ich so weit entwickle, bis ich meine, dass ich sie umsetzen kann. Ich bespreche sie dann mit jemand oder mit verschiedenen Leuten, um zu schauen, wie sie funktionieren könnten. Aber auch die Filmprojekte, ein Museumsprojekt sind ähnlich wie meine Bergprojekte früher. Das heißt, zuerst geht alles nur in meinem Kopf herum. In dem Museum hier in Firmian stecken zum Beispiel fünf Jahre geistige Arbeit. Jetzt gehen die Leute durch und sehen es vielleicht nicht, aber sie spüren, was da alles drinsteckt. Genau deshalb brauche ich auch Zeit für mich alleine. Aber ich bin ja auch, wenn ich durch den Flughafen gehe, alleine. Da sind 1000 Leute links und rechts, die gehen alle vorbei, aber ich bin mit meinen Gedanken irgendwo. Unsere Gedanken sind relativ frei. Wenn wir lernen, lange unter großen Schwierigkeiten allein mit uns zurechtzukommen, sind wir auch anderen Menschen besser zumutbar, als wenn wir das nicht gelernt haben. Dafür hat das Grenzgehen also doch Vorteile.

Das Interview wurde veröffentlicht im Magazin LIMITS, Ausgabe 1/2018.